Der Charme der liberalen Theologie

Die liberale Theologie hätte sich nicht so stark ausbreiten können, wenn sie unserem westlichen aufgeklärten Denken vordergründig nicht an vielen Stellen entgegenkommen würde. Ungeprüft strahlt sie häufig einen enormen Charme aus, weil sie den Schein von Wissenschaftlichkeit und verstandesmäßiger Eingängigkeit trägt. Die Argumente klingen häufig zunächst einleuchtend und naheliegend, was dazu führt, dass man sich ihnen nicht ohne weiteres entziehen kann. So hat mich das Argument immer beeindruckt, dass der Schöpfungsbericht mit großer Wahrscheinlichkeit in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft (um 580 v.Chr.) entstanden sei, weil er Parallelen zum babylonischen Weltschöpfungs- Mythos enthalte. Die hebräischen Sklaven hätten in der Zerstreuung bei drohendem zunehmendem Identitätsverlust nun auch ihre eigene Vorstellung von der Welt- Schöpfung entwickelt und dabei Teile aus dem babylonischen Mythos übernommen. Nachdem ich mich allerdings genauer mit dieser Thematik befasst habe, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass dies nur ein kleiner Teil der Wahrheit ist. Die Unterschiede zum Weltschöpfungsepos der Babylonier sind viel grösser als die Parallelen, wenn man überhaupt von Parallelen sprechen kann. (siehe ENUMA ElISCH). Im Gegensatz zu anderen altorientalischen Kosmogonien ist der biblische Schöpfungsbericht frei von jeder mythologischen Darstellung (keine Götterkämpfe, keine Entstehung materialistischer Elemente (Erde/Himmel, Süßwasser/Salzwasser) aus Gottheiten). Die Welt ist nicht göttlich. Walter Hilbrands schreibt dazu (in Genesis Schöpfung Evolution S.173): „Bei keinem einzigen Bibeltext ist eine direkte literarische Abhängigkeit von altorientalischen Paralleltexten bisher nachgewiesen.“ Die bibelkritische Datierung der Abfassung des biblischen Schöpfungsberichtes lange nach Mose steht auf äußerst tönernen Füssen. Auch weitere Argumente, die häufig für die Spätdatierung ins Feld geführt werden, entpuppen sich bei genauer Untersuchung als äußerst fragwürdig oder könnten teilweise genauso gut für eine frühere Datierung kurz nach der ägyptischen Fremdherrschaft herangezogen werden (siehe Pentateuchkritik). Ein anderes Beispiel ist die Behauptung, dass der Petrusbrief nicht von Petrus selbst stammen könne, weil ein einfacher Fischer niemals so gut griechisch sprechen, lesen (griechische Zitate aus der Septuaginta) und schreiben hätte können. (Pseudoepigraphie) Das klingt für den Laien zunächst überzeugend. Bei näherer Betrachtung verliert dieses Argument jedoch enorm an Überzeugungskraft. Im heidnischen Galiläa der damaligen Zeit mussten die Menschen zumindest einfaches Griechisch können, um sich auf dem Markt verständigen zu können. Es ist nicht auszuschließen, dass viele Menschen damals zweisprachig aufwuchsen. Außerdem ist es nicht stichhaltig, dass ein einfacher Fischer nicht bildungsfähig und intelligent sein konnte. Es gibt auch in unserer Zeit viele Menschen, die einen einfachen Beruf gelernt haben, obwohl sie durchaus die intellektuellen Fähigkeiten für eine Akademikerlaufbahn gehabt hätten. Und sicher fällt jedem Leser ein Prediger ein, der von einem einfachen Beruf herkommend zu einem vollmächtigen Prediger geworden ist. Warum sollte man dies Petrus nicht zutrauen, zumal auch der Heilige Geist seinen Beitrag geleistet haben dürfte. Außerdem war es damals üblich, Briefe zu diktieren, sodass auch die Möglichkeit besteht, dass Petrus selbst zwar nicht den schreibstift führte, wohl aber den Text mündlich diktierte und dabei vielleicht auch teilweise die Formulierungsvorschläge des Schreibers übernahm.             

Erst bei genauer Untersuchung fällt auf, dass es für viele ihrer angeblich wissenschaftlichen Argumente mindestens ebenso viele Gegenargumente gibt, die eher für die Echtheit der Bibel sprechen. An der Stelle bin ich dankbar für die vielen evangelikalen Wissenschaftler und Theologen, die sich die Mühe machen, die liberalen Argumente genau unter die Lupe zu nehmen und gut durchdachte Alternativerklärungen aufzustellen und zu veröffentlichen. Am Einzelfall müsste man Kritik und Gegenkritik jeweils gegeneinander abwägen, um zu einigermaßen objektiven Ergebnissen zu gelangen. Merkwürdigerweise geschieht dies aber gerade nicht. In der liberalen Theologie geht man selbstverständlich davon aus, dass die Kritik, wenn sie einen breiten Konsens gefunden hat, aufgrund der Mehrheitsmeinung immer richtig und berechtigt ist. Die moderne Theologie erhebt einen Alleinvertretungsanspruch für wissenschaftliche Theologie. Dabei ignoriert sie häufig die Alternativerklärungen, die von Seiten bibeltreuer Forscher vorgebracht werden. Der breite Konsens wiegt immer schwerer als das Einzel-Argument. Gegenargumente tragen von vornherein das Etikett – Vorwissenschaftlich oder naiv-, sodass es für einen jungen Theologen schwer sein dürfte, berechtigte Kritik zu etablieren. In der medizinischen Wissenschaft werden gerne Studien unter den Tisch gekehrt, die ein unvorteilhaftes Ergebnis für ein bestimmtes zu bewerbendes Medikament erbracht haben. Nach allen meinen Recherchen scheint dies in der Theologie nicht anders zu sein, wobei es in der Theologie weniger um Geld als vielmehr um wissenschaftliche Reputation geht.  Eta Linnemann bestätigt dies, indem sie schreibt (in Original oder Fälschung, S.48): „Um einen akademischen Grad in der Gottgelehrsamkeit zu erhalten, muss ich mich entscheiden, in meinem Denken dem Atheismus Raum zu geben. Fromme Gefühle wird man mir freundlicherweise erlauben, aber mein Denken hat die atheistische Grundsatzentscheidung nachzuvollziehen und methodisch vorzugehen- ut si Deus non daretur“ (= als ob es Gott nicht gäbe). Schon dem theologischen Laien fällt hier auf, dass diese Grundsatzentscheidung dem Untersuchungsgegenstand nicht angemessen sein kann. Wie will ich ein Buch richtig beurteilen, das von der ersten bis zur letzten Seite von übernatürlichen Geschehnissen berichtet, wenn ich die übernatürlichen Geschehnisse von vornherein ausschließe. Im Kapitel über die Wunder habe ich dazu einiges geschrieben. Hier geht es mir darum zu zeigen, wie diese Grundsatzentscheidung, die als Voraussetzung für die akademische Reputation gilt, zwangsläufig auch ihre Ergebnisse beeinflussen muss. Das dies kein aus der Luft gegriffener Vorwurf ist, zeigt auch die Tatsache, dass ein evangelikaler Theologe, der an der historischen Glaubwürdigkeit der Bibel festhält, kaum eine Chance hat, einen Lehrstuhl an einer staatlichen, theologischen Fakultät in Deutschland zu bekommen. Sowohl die Dozenten als auch und insbesondere die jungen Theologiestudenten stehen unter einem enormen vielfach unbewussten Gruppendruck, die Ergebnisse vieler Theologengenerationen anzuerkennen und in ihr eigenes Denken zu übernehmen.

Eta Linnemann als ehemalige Insiderin der universitären Theologie schreibt: Die Herangehensweise der liberalen Theologie sei immer: „So wie es dasteht, kann es nicht gewesen sein.“ Warum eigentlich nicht? Weil es das liberale Weltbild, an dem sich die ganze bibelkritische Forschung orientiert, ins Wanken bringen würde und damit viele ihrer Hypothesen. Die Theologie erweist sich hier als Kartenhaus, das nur in sich selbst stabilisiert ist. Fällt eine Karte, stürzt das ganze Kartenhaus ein. Deshalb sucht ein Bibelkritiker nicht vorwiegend nach den Kriterien, die die Echtheit eines Textes oder die Historizität untermauern würden, sondern nach den Kritikpunkten, die den Verdacht auf fiktive Einträge lenken. Die wissenschaftliche Arbeit innerhalb der universitären Bibel-Forschung besteht inzwischen darin, die Unstimmigkeiten zu finden. Es ist auffällig, dass in der liberalen Theologie zu fast jedem Text der Bibel immer die Unstimmigkeiten und Widersprüche herausgestellt werden und nie die Schlüssigkeit und die Übereinstimmung mit anderen Aussagen oder Texten der Bibel. Es gilt einen Konsens mit dem Text zu vermeiden. Jeder Text der Bibel wird unter den Generalverdacht gestellt, er sei unecht. Nur wenige Texte können sich diesem Verdacht entziehen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Theologe auch bei diesen Texten „seinen Beweis“ für die Unechtheit auftischt. Die Suche nach Unstimmigkeiten und Widersprüchen gehört heute zur existentiellen Aufgabe der Theologen wie die Suche der Eichhörnchen nach Nahrung für den Winter. Unstimmigkeiten sind der eigentliche Forschungsgegenstand, an dem sich der Ehrgeiz der Theologen entzündet nicht zuletzt auch deshalb, weil sie einen wichtigen Teil der akademischen Legitimation darstellen. Wer die Einheit innerhalb und außerhalb eines Textes bejaht und fördert, hat verspielt. Nur wer die mangelnde Stichhaltigkeit nachweist, kann sich als erfolgreicher Theologe auf die Schulter klopfen. Findet man nur das kleinste Anzeichen von Ungereimtheiten, nimmt man dies zum Anlass, die ganze Geschichte drumherum für unecht zu erklären und darauf seine weiteren Schlüsse aufzubauen. Der Nachweis von Fehlern und Widersprüchlichkeiten bildet die Grundlage für alle weiteren Interpretationen, ohne zu berücksichtigen, dass schon die Annahme von Unstimmigkeiten eventuell einem Irrtum unterliegt. Diese Vorgehensweise ist nicht wissenschaftlich! Der Generalverdacht von Unstimmigkeiten und Widersprüchen ist nicht redlich, weil es statistisch völlig unwahrscheinlich ist, dass so viele Texte erfunden, mythologisch ausgeschmückt oder Jesus in den Mund gelegt wurden. Es gibt liberale Theologen, die von nur 15 % echter Jesusworte ausgehen. In der neueren Theologie des Jesus-Seminars in den USA gibt es Stimmen, die das Neue Testament für komplett erfunden halten. Außerdem ergeben sich viele Unstimmigkeiten nur unter der Voraussetzung von weltanschaulichen Vorurteilen (z.B. Wunder kann es nicht geben), sodass die Schlussfolgerung nichts anderes ist als das, was man schon von vornherein angenommen hat. Die historisch kritische Methode ist ein sich selbst stabilisierendes System. Am Ende kommt immer das raus was, man schon am Anfang reingesteckt hat, wie eine Schuhfabrik, die Schuhe produziert, die sie schon fertig geliefert bekommt. Als Beispiel möchte ich die Erzählung der Jungfrauengeburt anführen, bei der man das Fehlen der Kindheitsgeschichten bei Markus als dem ältesten Evangelium als Hinweis darauf sieht, dass die Lehre der Jungfrauengeburt eine nachträgliche Entwicklung sei. Genauso sei es auffällig, dass Paulus die Jungfrauengeburt nicht expressis verbis erwähnt. Es ist das übliche und häufig eingesetzte Argument des Schweigens- ein argumentum ex silentio. Wenn es im ältesten Evangelium und in den ältesten Briefen von Paulus nicht erwähnt wird, dann heißt das automatisch, es sei nicht tatsächlich geschehen. Dieses Argument funktioniert aber nur dann, wenn man voraussetzt, dass die nachösterliche Gemeinde theologisch kreativ war und eine bis dahin nicht bestehende Lehre in Reflexion über die Auferstehungserfahrung erfunden hat. Es braucht ja eine Erklärung dafür, wie es sonst zu dieser Lehre gekommen ist. Das ist aber eine a-priori- Annahme, die nicht beweisbar ist und ihrerseits nur auf einem innerweltlichen Gottesbild aufbaut. Hier schließt sich der Kreis der Argumentation. Die liberale Theologie beruht nicht nur auf einem geschlossenen Weltbild, sondern auf einer in sich selbst geschlossenen und stabilisierenden Argumentation. Dass es außerhalb dieses Kreisdenkens zahlreiche Gründe und Indizien für die Echtheit der Erzählung gibt, spielt für die liberalen Theologen dann keine Rolle mehr. Dass es 2 Evangelien gibt, die die Jungfrauengeburt unabhängig voneinander erzählen (Matthäus und Lukas), und zwar mit allen dazugehörigen Details, dass Paulus z.B.im Philipperbrief die Jungfrauengeburt indirekt voraussetzt und dass es zahlreiche weitere Indizien für die Jungfrauengeburt als von Anfang an bestehende Lehre gibt, wird nicht genügend respektiert. An der Stelle wird klar, dass die Gründe für eine Ablehnung der Echtheit von Texten häufig nur ihre Kraft durch außerwissenschaftlichen Vorannahmen bekommen. Im vorliegenden Beispiel bekommen sie ihre Kraft nur durch die Voraussetzung: eine Jungfrauengeburt ist medizinisch nicht möglich, deshalb muss es eine kreative Gemeinde gegeben haben, die diese Lehre theologisch entwickelt hat. (Siehe dazu: William Lane Craig zur Jungfrauengeburt oder entsprechendes Kapitel in diesem Skript). Der unbedarfte Laie bekommt den Eindruck, es handele sich um Wissenschaft.

Bei einem wissenschaftlich orientierten Theologen würde ich erwarten, dass er verschiedene Erklärungen zunächst ergebnisoffen präsentieren kann. Der bekannte Wissenschaftstheoretiker Karl Popper ist der Meinung, dass ein empirisch-wissenschaftliches System an der Erfahrung scheitern können muss also falsifizierbar (widerlegbar) sein muss, um als wissenschaftlich gelten zu können. Das heißt, dass Wissenschaft bereit sein muss, ihre Argumente auch durch Widerspruch in Frage stellen zu lassen und letztlich auch widerlegen zu lassen. Dass dies in der liberalen Theologie nur rudimentär geschieht, zeigt sich vor allem daran, dass die Daten, die die Echtheit von biblischen Texten stützen, allenfalls am Rande erwähnt werden oder gar nicht kommuniziert werden. Stattdessen bemüht man häufig irgendwelche Strohmann-Argumente oder Polemik, wie in der Politik, wenn man wenig sachlich gute Argumente für den eigenen Standpunkt zur Verfügung hat. Wie oft habe ich schon das Argument gehört, die Bibel sei nicht vom Himmel gefallen, oder die Bibel sei kein naturwissenschaftliches Lehrbuch. Ganz ehrlich, ich bin noch nie einem evangelikalen Christen begegnet, der so etwas behauptet hätte. Man argumentiert gerne auf dem Hintergrund einer fiktiven extremen Gegenposition, die keiner vertritt. Die echten Gegenargumente gegen die liberale Sichtweise tauchen in der Diskussion nicht auf. Nicht-Theologen gegenüber vermittelt dies den Eindruck, liberale Theologie sei wissenschaftlich. In Wirklichkeit beruhen die Erkenntnisse der liberalen Theologie wegen fehlender Abwägung von Pro- und Contra-Argumenten nicht auf Wissenschaft, sondern auf unwissenschaftlichen Vorentscheidungen, wie ich es in diesem Skript mehrfach dargestellt habe. Diese Vorentscheidungen werden aber nicht klar kommuniziert, sodass der Eindruck der Sachlichkeit bestehen bleibt. In der Medizin kennt man die Praxis, dass Studien, die ein negatives Ergebnis erbracht haben, nicht veröffentlicht oder unter den Tisch gekehrt werden. In der Theologie scheint das nicht anders zu sein, wenn es gilt, die eigenen weltanschaulichen Prämissen zu untermauern. Dabei will ich nicht behaupten, dass dies immer mit böser Absicht geschieht, nein, viele Theologen sind in ihren Bemühungen durchaus ehrlich- viele geben auch zu, dass sie nicht anders können. Vielleicht liegt es aber wirklich daran, dass sie in ihrem Denken schon so stark gefangen sind, dass ihnen die Offenheit für einen anderen Denkansatz völlig verwehrt ist. Das innerweltliche Gottesbild hat sich schon so fest in ihrem Denken eingegraben, dass ein Umdenken nicht möglich ist. Dies ist eigentlich der Grundmechanismus einer Verführung oder einer Irrlehre.  Man lügt sich in die eigene Tasche, ohne dass weder der ehrliche, renommierte Theologe noch der nicht wissenschaftlich orientierte Laie oder auch der junge unbedarfte Student es merkt. Echte wissenschaftliche Arbeit sollte aber auch die Gegenargumente gegen die Kritik berücksichtigen. Nicht einmal da, wo sich die liberale Theologie offensichtlich geirrt hatte (z.B. bei der fehlenden Schreibfähigkeit zur Zeit Moses oder bei diversen Falschangaben von historischen Daten bei Lukas) ist sie bereit, von ihrem Standpunkt abzurücken und mit dem dringend erforderlichen Selbstzweifel zu beginnen. Die liberale Theologie hat sich in ihrem vernunftorientierten und mensch-zentrierten Denken eingelullt. Das ist der eine Aspekt, der mir beim Studium der HKT aufgefallen ist.

 Ein weiterer Aspekt bei der Frage nach dem Charme der liberalen Theologie ist folgender: Wenn man sich mit Kritik an der Bibel bzw. an biblischen Geschichten beschäftigt, dann wird irgendwann klar, dass sich für alle geschichtlichen, auch nicht biblischen Ereignisse Kriterien finden ließen, mit denen die Echtheit oder die Historizität dieser Geschichten in Frage gestellt werden könnten. Die profanen Literaturkritiker haben dies längst erkannt.

Olof Gigon (1912-1998), klassischer Philologe: „Die Literarkritik hat eine Tendenz zur Hypertrophie. Es ist nämlich möglich, jeden beliebigen Text so zu analysieren, dass er sich in ein Konglomerat von heterogenen Bruchstücken auflöst. Der Philologe ist in Gefahr, gewissermaßen ein mal òcchio zu erwerben und überall nur noch Unstimmigkeiten, Gedankensprünge und Stilbrüche zu entdecken … Der Fehler, der dabei begangen wird, ist natürlich der, dass der Interpret stillschweigend vom Bild eines perfekt kohärenten, nach Form und Gehalt untadelig geschlossenen Textzusammenhanges ausgeht, als ob dergleichen in der historischen Wirklichkeit überhaupt zu finden wäre- …“  Um es nochmal einfacher auszudrücken: wenn ich es darauf anlege, dann kann ich in jedem x-beliebigen historischen Text Kriterien finden, die die Glaubwürdigkeit dieses Textes in Frage stellen. Es liegt in der Natur von Texten, von Sprache und unserer Denkstruktur begründet, dass in jedem Text Unstimmigkeiten auftreten. Im Kapitel über Irrtümer der Schrift habe ich erklärt, dass unsere Sprache an vielen Stellen mehrdeutig ist und nur im übergeordneten Zusammenhang richtig verstanden werden kann.  Auch der Kommentar des bekannten Historikers, Henri Irenee Marrou 1904-1977 bringen die Gefahr von Fehlinterpretationen zum Ausdruck:

 „Der Historiker darf gegenüber den Zeugen der Vergangenheit nicht jene verdrießliche, kleinliche und mürrische Haltung annehmen wie ein schlechter Polizist, dem jede vorgeladene Person a priori bis zum Beweis des Gegenteils als verdächtig und schuldig gilt; eine solche Überspitzung des kritischen Geistes wäre für den Historiker alles andere als eine Qualität, vielmehr ein grundlegendes Laster, das ihn praktisch unfähig macht, die wirkliche Bedeutung der zu untersuchenden Dokumente , die ihrer Tragweite und ihren Wert zu erkennen; eine solche Haltung ist in der Geschichte ebenso gefährlich wie die Furcht getäuscht zu werden; es ist nicht so leicht, ein Dokument zu verstehen, zu wissen was es ist, was es sagt und was es bedeutet. Oft genug hat einem Kritiker dort, wo er ein Verstehen oder einen Irrtum entdeckt zu haben glaubte, der weitere Gang der Forschung zu seiner Beschämung gezeigt, dass er nicht zu verstehen vermocht hatte.“  Mit diesen Sätzen beschreibt Marou genau die Art und Weise, mit der viele Theologen mit biblischen Texten umgehen. Jeder biblische Text wird von vorherein verdächtigt, nicht echt oder manipuliert zu sein. Wissenschaftlich bedeutet in der liberalen Theologie die Verdachtsmomente oder die Unstimmigkeiten zu finden. Passend dazu gibt es kaum Geschichten über oder Aussagen von Jesus im NT, die nicht schon mal von einem Theologen für unecht erklärt worden wären.

Die Frage ist also nicht, ob es solche Kriterien gibt, sondern mit welchem Vorurteil ich an einen historischen Text herangehe und wie plausibel die Kriterien im übergeordneten Zusammenhang sind. Die Plausibilität ist wiederum abhängig von den Spuren, die die behaupteten Geschichten hinterlassen haben und von evtl. vorhanden Augenzeugen und deren Glaubwürdigkeit. Es ist offensichtlich, dass man die Spuren der biblischen Geschichte in der liberalen Theologie genauso wie die Augenzeugenschaft häufig nicht ernst nimmt. Man verwirft also die wichtigsten Befunde, die für eine hohe Plausibilität sprechen würden. Das entscheidende Argument für deren Ablehnung ist der Vorwurf der ideologischen Voreingenommenheit der Augenzeugen oder der interessensabhängigen Interpretation von Ereignissen und Spuren. Beim Thema der leiblichen Auferstehung argumentiert man von Seiten der liberalen Theologie, es habe keine neutralen Augenzeugen gegeben. Allerdings ist dies schon sehr merkwürdig, denn welcher Augenzeuge könnte noch neutral bleiben, wenn er den Gekreuzigten plötzlich leibhaftig vor sich sehen würde. Dabei sollte man jedoch beachten, dass es keinen antiken Historiker gibt, der nicht aus einer persönlichen Perspektive schreibt. William Lane Craig schreibt dazu: „Es ist wichtig, zu verstehen, dass alle antiken Historiker aus einem Blickwinkel schrieben. Herodot, Thukydides, Tacitus – alle von ihnen hatten etwas, wofür sie sich einsetzten. Für sie war die Geschichte ein Mittel, ihr Verständnis oder ihre Position zu verteidigen. Somit gründet sich in diesem Sinne die gesamte griechisch-römische Geschichte auf Dokumente, die eine gewisse Voreingenommenheit widerspiegeln. Dies hindert jedoch nicht den klassischen griechisch-römischen Historiker daran, die Vergangenheit so zu rekonstruieren, wie sie wirklich geschah. Eine gewisse Voreingenommenheit ist also kein Beweis dafür, dass das Ereignis, von dem berichtet wird, nicht wirklich geschehen ist. Im Fall der Auferstehung könnte man gerade umgekehrt argumentieren: Ist es nicht geradezu ein Beweis für die Echtheit der leiblichen Auferstehung, dass es keine neutralen Beobachter, keine endgültigen Zweifler mehr gab, sondern nur noch verwandelte Zeugen, die das Evangelium mit großer Überzeugung und unter Lebensgefahr verkündeten.

Mit dem Argument der Voreingenommenheit kann ich also die Glaubwürdigkeit jedes Augenzeugen und Interpreten von Spuren in Frage stellen. Dadurch verliere ich allerdings jegliches Kriterium, um der Wahrheit näher zu kommen. Außerdem haben wir es in der Bibel nicht mit herkömmlicher Geschichtsschreibung zu tun, sondern mit außergewöhnlichen den persönlichen Glauben herausfordernden Ereignissen, deren Ansprüche und Fragen nach ihrer Echtheit nicht nur meine Gelehrsamkeit erhöhen, sondern möglicherweise über mein Leben und meine Ewigkeit entscheiden. Dies gilt sowohl für den Autor als auch für den Historiker bzw. den Theologen, der die Glaubwürdigkeit des Geschriebenen untersucht. Eine Neutralität ist hier schwer aufrechtzuerhalten, wenn nicht sogar unmöglich. Entweder ich stimme zu oder ich lehne die Glaubwürdigkeit ab. Gerade das Urteil der ideologischen Voreingenommenheit würde den modernen Theologen genauso wie seinen literarischen Untersuchungsgegenstand treffen. Wenn ich also die Glaubwürdigkeit eines Zeugen aufgrund der ideologischen Voreingenommenheit ablehne, dann könnte der Theologe, der dies tun würde, nicht für sich selbst diese Glaubwürdigkeit beanspruchen, denn auch er wäre ideologisch vorbelastet, wie wir vielfach gesehen haben. Die Voreingenommenheit kann niemals ein alleiniger Grund für die Ablehnung einer Aussage oder der Historizität eines Ereignisses sein. Der unbedarfte Hobby-Theologe gewinnt hier allerdings ein weiteres Mal den Eindruck, als ob die Ablehnung der Glaubwürdigkeit auf wissenschaftlichem Boden stehe. Die liberale Theologie manipuliert also an zwei Stellen die Sichtweise von Menschen. Einerseits werden die Argumente, die die Kritik in Frage stellen häufig verschwiegen, andererseits werden die Argumente, sofern sie offen zu Tage liegen, dadurch geschwächt, dass man die Glaubwürdigkeit von Augenzeugen und die Plausibilität von Spuren in Frage stellt.  

Noch ein weiterer Punkt ist mir aufgefallen: In medizinischen Studien werden in der Regel zu Beginn die Ein- und Ausschluss- Kriterien für eine Studie genannt. So gewinnt der einfache Mediziner einen Überblick über die Aussagekraft der Ergebnisse. In der Theologie verschweigt man diese Kriterien. Außer bei den theologischen Ausführungen des Jesus-Seminars werden in der liberalen Theologie die Denkvoraussetzungen in der Regel nicht genannt. Fairerweise müsste die liberale Theologie zu Beginn einer wissenschaftlichen Veröffentlichung immer ihre weltanschaulichen Prämissen darlegen. Sie müsste klarstellen, dass sie von einem rein innerweltlichen Gottes- und Jesus-Verständnis ausgeht. Dies traut man sich natürlich nicht, weil der Zweifel und die Verunsicherung eher geeignet sind, eine Weltanschauung zu unterminieren, als eine klare Gegenposition, die jeder sofort an den Konsequenzen prüfen könnte. Die liberale Theologie weiß genau, dass ein Offenlegen der Prämissen aufgrund der weitreichenden Konsequenzen sich weitaus schlechter verkaufen ließe. Der Charme der liberalen Theologie lässt sich also nur erhalten durch eine nach außen sichtbare indifferente Haltung und durch eine massive, versteckte Umdeutung von Begriffen.

Damit wäre ich bei einem weiteren wesentlichen Punkt, der für den Charme der liberalen Theologie verantwortlich ist. In der Mineralogie gibt es den Begriff der Pseudomorphose. Das bedeutet, dass ein Mineral nicht mehr seine ursprüngliche Form und Gestalt zeigt (Kristallsystem), sondern die Gestalt eines anderen Minerals angenommen hat. Das ist nach meiner Einschätzung ein sehr schönes Bild dafür, was in der liberalen Theologie geschieht. Viele christliche Begriffe wie Gottes Sohn, Auferstehung, Erbsünde, Glaube, Gebet, Wort Gottes, Pfingsten, Himmelfahrt, Gott, Jesus, werden ihres ursprünglichen Sinnes entleert und mit einem neuen Inhalt gefüllt. Man glaubt an alles und gebraucht das gleiche Vokabular aber eben in einer völlig anderen Bedeutung. Eta Linnemann schreibt dazu: „Dass Jesus Gottes Sohn ist, wird z.B. vielfach nicht so verstanden, dass er Gott von Gott, Licht von Licht. Wahrhaftiger Gott aus wahrhaftigem Gott ist, sondern lediglich als eine Chiffre, die aussagen soll, das am historischen Jesus etwas Besonders ist, wodurch er sich von anderen Großen der Geschichte unterscheidet und dass wir es in ihm-irgendwie mit Gott zu tun bekommen.“  Die Auferstehung versteht man nicht als leibhaftige Auferstehung, sondern als Reanimation (Wiederbelebung) der Wirkungskraft des vorbildhaften Lebens Jesu. Das Gebet ist kein Reden des Herzens mit einem persönlichen Gott, sondern eine fromme Selbstmeditation. Die Jungfrauengeburt wird als besonderes glaubens-technisches Mittel verstanden, die Würde des historischen Jesus herauszustellen. Heilungs- Wunder sind nur im Rahmen von psychosomatischen Vorgängen denkbar. Indem man jedoch das gleiche Vokabular verwendet, erkennt der Unwissende keinen Unterschied. Die wahre Bedeutung und der eigentliche Hintergrund werden verdeckt, sodass eine derartige Pseudomorphose eine weit geringere Angriffsfläche für Kritik bietet. Die liberale Theologie kommt im frommen Gewand daher, indem sie das gleiche Vokabular benützt und ihren Glauben an dieses Vokabular bezeugt. Unser Glaube ist aber nicht an Begriffe gebunden, sondern an die Bedeutung, die hinter den Begriffen stehen. Insofern kann man nicht vom gleichen Glauben sprechen, auch wenn die Begrifflichkeit und die Predigt die gleichen sind. Prof. Armin Baum schreibt dazu: „Ob zwei Menschen den gleichen Glauben haben, lässt sich meines Erachtens nicht einfach daran ablesen, ob sie die gleichen Begriffe verwenden. Ein solches Urteil hängt davon ab, welche Inhalte sie mit den Begriffen meinen.“ Prof. Armin weiß, warum er dies schreibt.Trotzdem wird dies als Zeichen gesehen, „dass man doch gar nicht so weit voneinander entfernt ist“- nach meiner Meinung ein wesentlicher Grund, warum die liberale Theologie es geschafft hat, sich auszubreiten und in allen Kirchen Fuß zu fassen. Durch die Pseudomorphose entsteht der Eindruck einer Harmonisierung zwischen evangelikalem und liberalem Glaubensverständnis, sodass auf beiden Seiten der Wind aus den Segeln der Kritik genommen wird. Es entsteht eine Art Pseudovereinbarkeit beider Richtungen. 

Die Ausführungen zeigen deutlich: Nicht überall, wo Wissenschaft draufsteht, ist Wissenschaft drin. Das gilt vermutlich auf allen Gebieten der Wissenschaft, insbesondere wenn damit bestimmte Interessen verbunden sind. Das gilt natürlich auch für die eigene Sichtweise. Es ist der liberalen Theologie nicht der Vorwurf zu machen, dass sie das Blaue vom Himmel herunter phantasiert, nein die Argumente haben für einen wissenschaftlich orientierten Menschen einen gewissen Charme. Diesen verliert sie jedoch sehr schnell, wenn man sich die Argumente genau anschaut und wenn man erkennt, dass wichtige Kriterien wie Augenzeugen und archäologische sowie historische Indizien ignoriert werden. Der größte Vorwurf gegen die liberale Theologie ist allerdings, dass sie ihre weltanschaulichen Prämissen über ein geschlossenes Weltbild nicht offenlegt und klar bekennt, dass sie ein dem biblischen Zeugnis diametral entgegengesetztes Gottes- und Jesusbild hat. Immer wieder bei meinen Recherchen hatte ich sogenannte Aha-Erlebnisse, weil ich plötzlich merkte, dass es auch die andere Seite, eine gut begründete Gegenposition gibt. Man sollte sich deshalb nicht zu voreilig von den Argumenten der HKT beeindrucken lassen. Es gibt auch sachlich korrekte, nicht weniger wissenschaftliche Begründungen für die Glaubwürdigkeit der Bibel. Ich kann mit der gleichen Gewissenhaftigkeit und wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit zu völlig anderen Ergebnissen kommen. Zwar bin ich auch in meiner Weltanschauung voreingenommen, aber zu behaupten, diese Haltung sei weniger wissenschaftlich, halte ich für unredlich. Genauso ist es unredlich zu behaupten, dass es keine völlig verschiedenen Glaubenseinstellungen sind. Der Gegensatz zwischen liberalem Bibelverständnis und evangelikalem Bibelverständnis und damit auch zwischen den Glaubensarten könnte krasser nicht sein. Letztlich ist es immer eine Entscheidung, die ich treffen muss. Halte ich an der Bibel als dem autoritativen Wort Gottes und der persönlichen Offenbarung fest oder öffne ich mich einem rein innerweltlichen Gottesverständnis, nach dem die Bibel nur Glaubenszeugnisse der damaligen Menschen enthält.