Nach allen bisherigen Ausführungen ist es selbstverständlich, dass in der liberalen Theologie von der Bibelautorität keine Rede mehr sein kann. Klaus Scholder (1930-1985; Professor für Kirchengeschichte, Tübingen) bezeichnete die Entwicklung der HKT als einen „Prozess, an dessen Ende die Entthronung der Bibel als der autoritativen Quelle aller menschlichen Kenntnis und Erkenntnis steht.“ In vielen Aussagen von liberalen Theologen wird deutlich, dass man die Bibel nicht mehr als zeitlos gültige Richtschnur für unser Leben und Handeln sieht. Ralf Meiser als Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers äußerte sich 2014 zur Autorität der Bibel wie folgt: „Die Bibel ist nicht einfach Autorität, weil es konventionell so ist oder weil sie einfach Gottes Wort enthält…. Autorität muss heute notwendigerweise eine sich legitimierende Autorität sein. In diesem Sinne kann die Bibel nur noch dann als Autorität anerkannt werden, wenn sie in der individuellen Lebensführung als hilfreich und lebenserschließend erfahren wird.“ Mit anderen Worten heißt das, die biblischen Aussagen, die nicht hilfreich sind oder lebenserschließend erfahren werden, gelten dann nicht mehr. Der Mensch selbst entscheidet darüber, was Autorität besitzt und was nicht. Die Autorität der Bibel hat sich vor meinem subjektiven Wahrheitsbewusstsein zu legitimieren. Was mir in der Bibel nicht gefällt, kann keine Autorität beanspruchen. Diese Aussagen lassen den Geist der Aufklärung, der in der liberalen Theologie prägend geworden ist, durchschimmern. Häufig werden solche Aussagen mit dem Vorwurf einer zu engen Bindung an den Wortlaut der Bibel verknüpft, wobei man sich dabei gerne auf einen Vers in 2.Kor 3,6 beruft: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“.Als ob uns die Heilige Schrift die Option ließe, sich rauszusuchen, was ich für mich als Autorität anerkenne, oder was ich als unbeliebte zeitgebundene Herausforderung für unverbindlich erkläre. Dass die zitierte Aussage von Paulus im Korintherbrief in einem völlig anderen Zusammenhang steht und keinesfalls so verstanden werden kann, dass man die Bibel als Ganzes nicht mehr ernst nehmen soll, wird hier grundsätzlich ignoriert. An keinem anderen Punkt kommt die völlige Auflösung der Autorität der Schrift mehr zum Ausdruck, als in der Forderung, die Bibel wie jedes andere Buch zu behandeln. So hat Spinoza als einer der Väter der historischen Kritik schon im 18. Jahrhundert festgestellt, dass die Schrift nicht offenbart, sondern ein rein menschliches Buch sei. Diese Ansicht hat sich bei vielen Theologen bis heute gehalten. Man müsse die Bibel behandeln wie jedes andere literarische Werk auch. Ebeling betont beispielsweise (um 1950), dass die Bibel wie ein Platotext zu interpretieren sei. Auch bei Bultmann und seinen Schülern findet man ähnliche Aussagen. Werner Georg Kümmel stellte z.B. Mitte des letzten Jahrhunderts fest, „dass sich seit 1750 im Zusammenhang mit der Geistes-Strömung der Aufklärung die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass die Bibel ein von Menschen geschriebenes Buch sei, das wie jedes Werk menschlichen Geistes nur aus der Zeit seiner Entstehung und darum nur mit den Methoden der Geisteswissenschaft sachgemäß verständlich gemacht werden könne (aus Cochlovius: Leben aus dem Wort, Wege zu einem geistlichen Schriftverständnis). In aktuellen Aussagen versteckt sich diese Haltung in einer folgenreichen Verlagerung der Frageintention. Man fragt nicht mehr danach, was Gott uns durch sein Wort sagen wollte, sondern was der Schreiber seinem Leser mitteilen wollte. In den Kommentaren der Stuttgarter Erklärbibel findet man häufig Kommentare wie: „Hier irrte sich der Schreiber“, oder „Der Schreiber will damit sagen“. Statt nach dem Willen des göttlichen Autors zu fragen, fragt man heute nach der Absicht des menschlichen Schriftstellers. Damit wird klar, dass man den Aussagen der Heiligen Schrift keine göttliche Autorität mehr zugesteht. Um das Maß der Autorität einer biblischen Aussage beurteilen zu können, muss sie erst den Filter der historischen Kritik passieren. Die Autorität der Aussagen kann also nicht grösser sein als die der menschlichen Schriftsteller. Die biblische Autorität wird relativiert und der historisch-kritischen Theologie geopfert.
Ein weiteres Mal wollen wir nun untersuchen, ob die Bibel uns erlaubt, ihren Autoritätsanspruch so stark zu relativieren, denn eines ist klar: Die Autorität der Bibel muss aus ihr selbst begründet werden. Zunächst wollen wir den Umgang Jesu mit den Schriften des AT analysieren. Dieser Umgang wird von Seiten der liberalen Theologie oft als ein kritischer angesehen. Manche Autoren sind der Meinung, Jesus habe die Schrift gebrochen. Andere Theologen wie Stuhlmacher sprechen nur von einem kritisierenden Doppelschritt, den Jesus über den Wortlaut des alttestamentlichen Gebotes hinaus getan habe. Beim genauen Lesen der Stellen, aus denen man eine Kritik am Alten Testament ablesen will, stellt man aber fest, dass sie das nicht hergeben. In Markus 10,1f und Mt.19,4f ist die Antwort Jesu auf die Frage nach der Scheidungserlaubnis keine Kritik an Mose oder gar ein Gesetzesbruch, sondern eine Erklärung des ursprünglichen absoluten Gotteswillens im Unterschied zum zulassenden Willen Gottes, der in 5.Mose 24 heilspädagogisch noch begrenzt ist. (Wegen des Herzens Härte). Sowohl im Schöpfungsbericht als auch in 5. Mose 24 bleibt die göttliche Autorität der Aussagen die gleiche. Ebenso kann man Mk 7,1ff und Mt 15,1ff nicht als Kritik am AT auffassen. Jesus richtet sich hier gegen die Halacha der Pharisäer und nicht gegen das AT. Auch die berühmten „Antithesen“ in der Bergpredigt können nicht zum Zeugen einer Kritik am AT gemacht werden. Sein messianisches göttliches „Ich aber sage Euch…“bedeutet nicht, dass er widersprechen will, sondern dass es bei der praktischen Auslegung nicht nur auf eine äußere Einhaltung des Wortlautes des Gebotes, sondern auf die erweiterte innere Herzenshaltung ankommt. Jesus macht hier das mosaische Gesetz zum Ausgangspunkt und zur Basis, auf der jetzt durch ihn die volle Entfaltung des „neuen“ Gesetzes im Sinne der fortschreitenden Offenbarung zum Zuge kommt. Ausgerechnet in der Bergpredigt betont Jesus ausdrücklich, dass er „nicht gekommen ist, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu entfalten. Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetzt. (Mt.5,17) Jesus hat die göttliche Autorität der damaligen Heiligen Schrift bis in die kleinsten Schriftzeichen hinein anerkannt. Nicht nur in der Bergpredigt finden wir dieses klare Zeugnis der Anerkennung der Autorität des AT. In der Auseinandersetzung mit seinen pharisäischen Gegnern verwendet Jesus immer wieder Wendungen wie: “Habt ihr nicht gelesen?“– „Du kennst die Gebote“– „Was denkt ihr von dem Christus?“- „Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir“- „Steht nicht geschrieben?“(Mt12,3ff; Mk10,19; Mt22,42; Joh.5,46; 10,34). Gerhard Maier schreibt dazu: Ein Gesetzesbrecher hätte niemals die Frage stellen können: „Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen?“ (Joh.8,46) Auch schlimmste Rabulistik (Wortklauberei) hätte die Pharysäerjünger im Falle eines gesetzesbrüchigen Rabbi nicht sagen lassen: „Du lehrst den Weg Gottes recht“ (Mt.22,16). Es besteht also überhaupt kein Zweifel daran, dass für Jesus die Schriften des AT die letzte Entscheidungsinstanz und eine unvergleichliche göttliche Autorität darstellen. John Stott sagt dazu: „Die Autorität Christi und die Autorität der Schrift gehen zusammen… Wir müssen uns daher der Autorität der Schrift unterwerfen, wenn wir uns Christus unterwerfen wollen, denn die Autorität der Schrift beinhaltet die Autorität Christi.“
Wie geht nun das übrige NT mit dieser Frage um? Für das gesamte NT gehört es zur Selbstverständlichkeit, dass das AT und die Lehre der Apostel göttliche Autorität besitzen. Die Wendungen-Gott sagt- und- die Schrift sagt- werden untereinander austauschbar verwendet. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist Röm.9,15.17: “Denn er spricht zu Mose: (2. Mose 33,19): »Wem ich gnädig bin,dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.« So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Denn die Schrift sagt zum Pharao (2. Mose 9,16)…“. Hier werden im gleichen Textabschnitt beide Formulierungen verwendet. Dies istnur möglich, wenn Gott der Urheber der Schrift ist und durch diese zu uns redet. Auch in Hebräer 1,1ff kommt die Gleichsetzung der Schrift und Jesus als Offenbarungswege im Damals und im Heute zum Ausdruck: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welten gemacht hat.“ Es zeige sich hier nach Gerhard Maier das Urprinzip der christlichen Bibel, die eben AT und NT verbindet und zu einer neuen Einheit zusammenfügt. Diese Einheit gründet in dem einen, der hier zu Wort kommt- Gott. Gerade weil uns im Wort der Heiligen Schrift der lebendige Gott begegnet, weil er selbst zu uns spricht, werden die Formulierungen: „Die Schrift sagt“oder„Was sagt die Schrift…“überhaupt erst möglich. (Röm.4,3; Gal.4,30; 1.Tim 5,18). Die Autorität der Schrift ergibt sich aus der göttlichen Inspiration, die bei Paulus, Petrus, Johannes und dem Hebräerbrief selbstverständlich vorausgesetzt wird. Schließlich sei noch eine Stelle erwähnt, an der Jesus die Autorität der späteren Apostel, seine eigene und die des Vaters gleichstellt: Lukas 10,16: „Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat.“ Beim Lesen der genannten und anderer Bibelstellen zu diesem Thema ist mir aufgefallen, dass der Anspruch der göttlichen Autorität meistens mit einer Verheißung auf der einen Seite sowie einer Warnung auf der anderen Seite verbunden ist. Auch in Lukas 10 wird dies deutlich. Die Stelle erinnert an die Stellen in 5.Mose, wo die Beachtung der Gebote Gottes mit der Erfüllung seiner Verheißung auf das gelobte Land verknüpft wird. Demgegenüber wird dem Volk Israel für den Ungehorsam das Beispiel von gottlosen Völkern vor Augen gestellt, die Gott ausgetilgt hatte. Auch in Lukas 10 spricht Jesus von der Hölle für die Galiläer, die sein Wort nicht annehmen. Man denke auch an die bekannte Stelle in Offb22,18: Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: Wenn ihnen jemand etwas hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben steht.Der Schreiber war zutiefst davon überzeugt, diese Worte im göttlichen Auftrag zu schreiben, anders wäre eine derartige damit verbundene Strafandrohung anmaßend und gotteslästerlich. 2.Petr 3,16: Davon redet er in allen Briefen, in denen einige Dinge schwer zu verstehen sind, welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen werden, wie auch die anderen Schriften, zu ihrer eigenen Verdammnis.Oder: 2.Thes 3,14: Wenn aber jemand unserm Wort in diesem Brief nicht gehorsam ist, den merkt euch und habt nichts mit ihm zu schaffen, damit er schamrot werde.
Woher nehmen sowohl Petrus als auch Paulus das Recht, so zu urteilen, wenn nicht aus der Gewissheit, im Namen Gottes zu sprechen. Ohne die feste Überzeugung, dass Gott selbst sie mit dieser Botschaft beauftragt hat, hätten sich die Apostel auch damals nicht erlauben können, derartige Warnungen auszusprechen. Die Heilige Schrift zielt also auf unseren Gehorsam. Das kann sie nur dann tun, wenn sie keine menschliche Autorität hat, sondern göttliche Autorität. Nur so kann Paulus davon reden, dass er berufen ist, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden. (Röm1,5 und Röm. 10,3). Röm.15,18:„Denn ich werde nicht wagen, etwas zu reden, das nicht Christus durch mich gewirkt hat, um die Heiden zum Gehorsam zu bringen durch Wort und Werk, in der Kraft von Zeichen und Wundern und in der Kraft des Geistes Gottes.“Paulus ist sich hier seines anmaßenden Anspruchs durchaus bewusst, falls es sich hier um eine rein menschliche Ansicht handeln würde. Deshalb wählt er hier die Formulierung: Ich werde nicht wagen…! Gerhard Maier schreibt dazu: dennoch kann man von einer wirklichen Autorität der Schrift nur reden, wenn aus ihr der Gehorsam und der aus Dank geborene Dienst für Gott fließt. Insofern verknüpfen sich Schriftautorität und Gehorsam.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Bibel beansprucht in ihrer Gesamtheit, d.h. auch und vor allem in ihrer Verbindung zwischen AT und NT göttliche Autorität. Es kann aus der Heiligen Schrift keinerlei Kritik an sich selbst entnommen werden. Versuche, bestimmte Bibelstellen als Hinweis auf Selbstkritik und damit die Infragestellung ihrer göttlichen Autorität zu werten, sind nicht haltbar. Auch Jesus lässt sich für eine Kritik an übrigen Teilen der Bibel nicht missbrauchen. Die Bibel erlaubt uns also nicht, ihre Autorität in Frage zu stellen. Wer es trotzdem tut, braucht dafür wiederum einen übergeordneten Standpunkt. Er setzt also eine andere Autorität über die Bibel, sodass sie sich vor einem menschlichen Tribunal zu verantworten hat. Dies muss hier nicht nochmal ausführlich wiederholt werden. Was man sich hier allerdings nochmal bewusst machen sollte, ist, wie liberale Theologie in einen unversöhnlichen Widerspruch zur Bibelautorität gerät. Sie steht hier keinesfalls mehr auf gesundem biblischem Boden. Wir erinnern uns an das im Eingangstext genannte Zitat von Klaus Scholder, dass am Ende die völlige Entthronung der Bibel als der autoritativen Quelle aller menschlichen Kenntnis und Erkenntnis steht. Die historische Kritik erweist sich hier wieder mal als ein Sumpf, aus dem man nicht mehr herauskommt, wenn man mal den Fehler gemacht hat, ihn überhaupt zu betreten. Je stärker man sich gegen das Absinken wehrt, desto mehr wird man nach unten gezogen. Wer die Autorität der Heiligen Schrift mit der Bibelkritik vereinen will, der gerät in einen unerträglichen Zwiespalt, der am Ende nur nach einer Seite aufgelöst werden kann. Wer anfängt, die Autorität der Bibel irgendwo am Rand in Frage zu stellen, der kann nicht anders, als sich in immer wieder neue Spannungen und Widersprüche zur göttlichen Offenbarung zu flüchten und darf sich nicht wundern, wenn es am Ende zu einer unaufhaltsamen Kernschmelze kommt. Insofern ist eine radikale Bibelkritik konsequent, wenn sie nur noch an das Gute im Menschen glaubt, das uns Jesus in vorbildlicher Weise vorgelebt hat. Bibelkritik ist die antiautoritäre Erziehung des Christen zum kritischen Pluralismus und Relativismus. Wer die Autorität der Bibel in so radikaler Weise relativiert, wie es in der HKT praktiziert wird, der darf sich nicht beschweren, wenn am Ende nicht mal mehr der letzte Rest am Guten im Menschen übrig bleibt.