Die Einheit der Schrift

Die Einheit der Schrift ist eine aus der Schrift selbst herzuleitende, ureigene Eigenschaft der Offenbarung. Sie ergibt sich daraus, dass Gott als Urheber selbst hinter seinem Wort steht. Gott hat Menschen benützt, um uns seinen Willen, seinen Plan in Form von geschriebenen Worten mitzuteilen. Es ist eine direkte Folge der Inspiration. Gott hat sich nicht geändert. Er ist in seiner Trinität immer der gleiche Gott. (Hebr.13,8) Gleichzeitig ist die Einheit der Schrift auch darin begründet, dass alle Bücher der Heiligen Schrift zum Glauben an denselben einen Gott rufen. Der Gott des NT ist kein anderer Gott als der des NT. Der Vater Jesu Christi ist gleichzeitig der Gott der Urväter. Der Schöpfer des Universums (1.Mos.1,1) ist kein anderer als der Schöpfer eines neuen Himmels und einer neuen Erde. (Offb. 21,1) Die neue Stadt im Himmel heißt Jerusalem. (Offb.21,1,2) Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt kam und mit der Sünde der Tod, so geschieht die Rechtfertigung und damit der Sieg über den Tod durch einen Menschen. ( Röm. 5,12 ff) Wie Abraham nur durch den Glauben an Gott gerecht werden konnte, so können auch wir nur durch Glauben an seine Erlösung gerecht werden.( Röm.3 u.4). In Christus ist der Zaun zwischen dem auserwählten Volk und den übrigen Völkern abgebrochen. (Eph.2,14) Die Gläubigen des neuen Bundes werden eingepfropft in den Ölbaum des alten Bundes (Röm. 11,17). So ist auch die heilige christliche Kirche über alle Zeiten und alle Rassen hinweg entstanden durch eine einheitliche Botschaft der Bibel. Gerhard Maier dazu: „Zwar ist die Einheit der Kirche ein Glaubensartikel, das besagt aber nicht ihre mangelnde Realität, sondern nur ihre mangelnde Sichtbarkeit“. Die Einheit der Schrift ergibt sich für Gerhard Maier auch aus der einen Geschichte, die durch Gottes Wort geschaffen wurde. Der protologische Anfang, die christologische Mitte und das eschatologische Ende dieser jetzigen Welt bilden ein geschlossenes Ganzes. Jesus Christus ist zugleich der Anfänger, der Höhepunkt und das Ziel des diesseitigen Lebens. In Jesus führen alle Fäden dieser Welt zusammen. Er ist der Anfänger und der Vollender. Diese Dimension der Geschichte, die uns die Bibel selbst vorgibt, wird als Heilsgeschichte bezeichnet. Diese Heilsgeschichte ist aus seinem Wort hervorgegangen und berechtigt uns, von dem einen Wort Gottes zu sprechen.

An der Stelle müssen wir allerdings einhaken. Dass Gott zu allen Zeiten der Gleiche war, bedeutet nun aber nicht, dass er zu allen Zeiten in gleicher Weise geredet hat. Wiederum aus der Bibel selbst erfahren wir, dass Gott zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise geredet hat. (Hebr.:1,1 -3). Erst mit Jesus kommt der volle Einblick in den Heilsplan Gottes. (Matth. 5,17).  Eph.3,5 u.6): „Dies war in früheren Zeiten den Menschenkindern nicht kundgemacht, wie es jetzt offenbart ist seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist; nämlich, dass die Heiden Miterben sind und mit zu seinem Leib gehören und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind durch das Evangelium….“ Paulus spricht hier übrigens davon, dass dies Geheimnis ihm durch Offenbarung kundgemacht worden sei.

Wir sprechen hier von einer fortschreitenden Offenbarung. Deshalb ist es auch nicht möglich, die Einheit der Schrift in einem abstrakten Lehrsystem darzustellen, wie Gerhard Maier ausführt. Die fortschreitende Offenbarung bezieht sich dabei nicht nur auf eine erweiterte Auslegung alttestamentlicher Gebote (Bergpredigt, Antithesen) sondern auch auf die Aufhebung von bestimmten alttestamentlichen Geboten, insbesondere von Reinheitsgeboten und Zeremonialgeboten. Nicht alles, was dem Volk Israel geboten war, gilt für uns heute noch genauso. Dies wird uns aber von Paulus in seinen Briefen ziemlich klar erklärt. Ein anderes großes Thema wäre hier auch der unterschiedliche Umgang mit Gewalt und Gewaltlosigkeit, was jetzt allerdings nicht weiter vertieft werden kann. Unter dem Gesichtspunkt der fortschreitenden Offenbarung lassen sich scheinbare Spannungen, die von HK Theologen gerne gegen die Einheit der Bibel verwendet werden, gut lösen. Gleichzeitig schützt er uns auch vor einer vorschellen Einseitigkeit der Auslegung, indem man einfach manche Eigenschaften Gottes (Gericht, heiliger Zorn) wegstreicht. Der trinitarische Gott bleibt der gleiche (Heb.1,12;Hebr.13,8) Wir erkennen also, dass man von dem Selbstverständnis der Bibel aus betrachtet, die Spannung zwischen AT und NT nicht als Widerspruch oder als Hinweis auf menschliche Quellen ansehen muss. Die Bibel bleibt aus biblischer Perspektive eine Einheit. Ich würde sogar sagen, dass sich im Bewusstwerden der Einheit der Schrift überhaupt erst die tiefen Geheimnisse des Wortes Gottes erschließen. Wenn das stimmt, dann wird man bei einer Ablehnung der Einheit keine verborgenen Schätze finden. Wie im echten Leben: Wer nicht an einen Schatz glaubt, der wird keinen finden.

Wir wollen uns nun im Folgenden mit der Frage beschäftigen: Was passiert nun, wenn die Einheit der Schrift abhandenkommt.?

Die Einheit der Schrift ist eine wichtige Voraussetzung für eine Schriftauslegung durch die Schrift. Sacra scriptura sui ipsi interpres: Die Schrift legt sich selbst aus. Das war auch der wichtigste hermeneutische Schlüssel der Reformation und hat letztlich die Grundlage für ein Priestertum aller Gläubigen (1.Petr.2,9) geschaffen, wonach auch der einfache Bibelleser die Bibel verstehen und auslegen kann. Die Einheit und die Klarheit der Schrift gehen Hand in Hand. Ohne dieses Konzept wäre auch die überaus segensreiche Arbeit der Haus- und Bibelkreiskreisbewegung im Pietismus nicht möglich gewesen. Die katholische Theologie ging davon aus, dass die Bibel für den einfachen Menschen nicht zugänglich ist. Sie brauche die Auslegungs-Autorität des katholischen Lehramtes. Deshalb hat man einerseits in der Katholischen Kirche den Gebrauch einer deutschen Bibel und die Übersetzung ins Deutsche verurteilt und sogar verfolgt, andererseits hat man in der Reformation ein starkes Interesse entwickelt, dem einfachen Menschen eine in ihrer Sprache verständliche Bibel an die Hand zu geben. Für uns ist es heute selbstverständlich, dass in jedem Haushalt mindestens eine deutsche Bibel meist verstaubt im Regal steht.

Von einer Einheit der Schrift kann heute in der liberalen Theologie keine Rede mehr sein. Die Bibel wird als Zusammenstellung von Zeugnissen unterschiedlicher Gottesvorstellungen und Glaubenserfahrungen wahrgenommen. Das Alte Testament verkörpere einen anderen Gott als das Neue Testament. Im Alten Testament fänden sich noch Spuren eines Polytheismus (Elohim = Plural). Der historische Jesus, der kaum noch rekonstruierbar sei, habe kaum noch was mit dem Jesus zu tun, wie er von der nachösterlichen Gemeinde kreativ entwickelt wurde. Es gebe eine Vielzahl von verschiedenen Christologien. Die Paulinische Theologie sei frauenfeindlich und homophob und könne aus diesem Grund nicht mehr zur Orientierung für unser modernes Denken dienen. Die Urgeschichte und der darin enthaltene Schöpfungsbericht sowie die Apokalypse des Johannes gehörten zu den mythologischen Rändern, und enthielten nur noch die Aussage, dass Gott der Anfang und das Ende sei, der alles zusammenhält. „Bezeichnenderweise gab es seit der Aufklärung zwar noch eine Kirchenzucht, aber im Grunde keine Lehrzucht mehr“, sagt Gerhard Maier. „Ernst Käsemann hat den berühmten Satz aufgestellt, das NT begründe nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen und Christologien- wegen seiner eigenen Vielfalt und Widersprüchlichkeit“ Wenn aber diese Vielfalt sich mit Recht vom NT herleitet, wo bleibt dann die wahre Kirche? Es sind dann alle Kirchtümer und Konfessionen prinzipiell als solche im Recht, und die Wahrheit ist relativiert… Damit wird das NT auf den Kopf gestellt“. Ohne Einheit der Schrift verlieren wir also nicht nur das reformatorische Auslegungsprinzip, sondern wir verlieren die Verbindlichkeit, die Autorität, ja die Norma normans schlechthin. Genauso wie sich unter der Voraussetzung, die Bibel sei Gottes Wort, eine faszinierende Einheit der Bibel ergibt, so ergibt sich unter der Voraussetzung, die Bibel sei reines Menschenwort, ein Zerfall der Einheit und damit eine völlige Auflösung jeglicher Verbindlichkeiten.

Dieses Dilemma versucht man heute zu umgehen, indem man an die Stelle der Einheit der Schrift die Mitte der Schrift gesetzt hat. Ein Satz, den ich in einer Zusammenfassung eines Vortrags über das Bibelverständnis vor kirchlichen Lektoren und Prädikanten gelesen habe, gibt uns hier Aufschluss. Wir glauben nicht an die Bibel, sondern wir glauben an Jesus Christus, der in der Bibel bezeugt wird. Das ist ein typischer Satz, der die vernebelnde Luft der historischen Kritik atmet. Wodurch wissen wir denn, wer Jesus ist, wenn nicht durch die Bibel? Evangelikalen Christen wird manchmal untergeschoben, dass sie eine falsche Bibelsicht verfolgen. Die Bibel werde von evangelikalen Christen auf eine Ebene mit Gott gestellt. (Siehe Prof S. Zimmer in Fundamentalistisches Bibelverständnis) Ich bin allerdings noch keinem Christen, egal welcher Couleur begegnet, der die Bibel angebetet hätte. Wenn ich formuliere, ich glaube an die Bibel, dann meine ich das nicht anders, als wenn ich sage: Ich glaube den Worten unseres Bundespräsidenten. Ich bringe damit zum Ausdruck, dass ich glaube, dass der Bundespräsident die Wahrheit gesagt hat. Insofern wäre es auch möglich zu sagen: Ich glaube an die Bibel, weil ich glaube, dass Gott in seinem Wort zu uns spricht. In Wirklichkeit versteckt sich hinter der obengenannten Formulierung eine Bibelkritik. Die Bibel wird aufgrund der historisch-kritischen- Methode nicht mehr als Offenbarung Gottes angesehen, sondern als Menschenwort, das viele Widersprüche enthält. Um eine gewisse Autorität der Schrift nicht ganz aufgeben zu müssen, flüchtet man sich in die Mitte der Schrift, nämlich Jesus Christus. Das klingt gut und befriedigt zunächst auch die Ohren eines evangelikalen Christen. Jesus ist zweifelsohne die Mitte der Schrift. Wenn ich jedoch Jesus mit den Augen der Bibel der Offenbarung lese, dann kann ich hier überhaupt keinen Widerspruch zu anderen Teilen der Bibel finden. Die Mitte der Schrift ist überhaupt kein Gegensatz zur Einheit der ganzen Schrift. Wenn ich aber die Einheit der Bibel in Frage stelle, dann, stelle ich auch Jesus selbst in Frage wie wir es in meinen obigen Ausführungen gesehen haben. Ich kann Jesus nicht verstehen, wenn ich den Schöpfungsbericht und die Paradieserzählung nicht ernst nehme. Die Christologie ergibt sich auch aus der Protologie. Wer den Mechanismus der Sünde nicht versteht, wird auch die Soteriologie (Lehre von der Rettung) verkennen. Wenn Jesus die Welt erschaffen hat oder wenn ich daran glaube, dass Jesus typologisch hinter dem Felsen steht, aus dem das Volk Israel in der Wüste getrunken hat (1.Kor.10,4), dann ist es selbstverständlich, dass ich auch an die Präexistenz Jesu glaube, wie er im Neuen Testament bezeugt ist. Die Rettung des Volkes Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft ist eine Vorschattung der Rettung Jesu aus der Gefangenschaft der Sünde und des Todes. Was Glauben bzw. Vertrauen auf Gott praktisch heißt, erfahren wir mehr und besser im Alten Testament. Wie eine persönliche Beziehung zu Jesus und deren Auswirkungen auf meine Umgebung, meinen Alltag und meine Entscheidungen aussehen kann, erfahre ich in wunderbarer Weise in den Vorbildern von Noah, Abraham, Jakob, Josef, Mose, David und Daniel. Wenn ich diese Geschichten historisch kritisch wegkritisiere, dann verliere ich das Bewusstsein und das Gefühl für das Wesen einer Beziehung zum lebendigen Gott. Die Tiefe der Bedeutung von Jesus Christus und dessen Kreuzestod erschließt sich uns erst richtig in den apostolischen Texten und deren Bezügen zu alttestamentlichen Texten. Ohne diese zahlreichen Querverbindungen laufe ich immer Gefahr, ein einseitiges Gottes- und Jesusbild zu erhalten. Wir merken an der Stelle: Man kann nicht manche Teile der Bibel wegstreichen ohne Jesus zu verlieren. Die Mitte der Schrift wird nicht etwa verdeckt durch die Einheit, sondern im Gegenteil, sie kommt erst recht zur Geltung. Eine derartige Formulierung wie oben (Wir glauben nicht an die Bibel, sondern wir glauben an Jesus) vertuscht das verzerrte Jesus- Bild der historisch- kritischen Methode; der Satz müsste ehrlicherweise heißen: Wir glauben nicht an die Bibel, sondern wir glauben an den Jesus, der sich uns in der historischen Kritik erschließt.

Während für die Reformatoren die Einheit und die Mitte untrennbar zusammengehörten, wird seit der Aufklärung beides getrennt. Was Christum treibet wird als Maßstab angesehen. Es ist allerdings der gleiche Vorgang wie oben. Man spielt:“ Was Christum treibet“, gegen die Einheit der Schrift aus.  Mit dem Rückzugsgefecht auf das „Was Christum treibet“, glaubt man, viele andere Stellen der Bibel aufgeben zu können. Was Christum treibet wird zu einer Waffe gegen den Rest der Bibel. Was daraus wird, haben wir oben gesehen Hier sollen allerdings ergänzend noch einige Aspekte zusätzlich Erwähnung finden. Luther hat diesen Satz in einem ganz spezifischen Kontext verwendet. Gerhard Maier: 1.) Er ist ein religiöser Grundsatz und ist deshalb für kritische Ausscheidungen nur mit größter Vorsicht zu benutzen.2.) er ist im Zusammenhang mit einer Schrift gefallen, die Luther nicht für kanonisch hielt, 3.) Er ist mit der Hypothek einer Subjektivität verbunden, die bis heute nicht befriedigend getilgt werden konnte. Alles in allem eignet sich daher das lutherische „Was Christum treibet“ nicht dazu, an die Stelle der Einheit der Schrift zu treten.

Adolf Schlatter: Nur wäre jener Satz missbraucht, wenn mit ihm bewiesen werden sollte, dass einzig die ausdrückliche Verkündigung des Christus als das göttliche Wort zu gelten habe, so dass im Alten Testament nur das Bedeutung hätte, was direkt die messianische Verheißung enthalte, im Neuen Testament nur das, wodurch unmittelbar auf Jesus hingewiesen werde.“ Schlatter führt dann weiter aus, was es bedeuten würde, wenn alles, was nicht Jesus enthält, keine Bedeutung mehr hätte.“ Damit wäre die Einheit der Schrift wieder durch eine leere Einerleiheit ersetzt. Mit anderen Worten: Würde aus der Christusmitte ein Christusprinzip, dann wird die Schrift entleert und ihrer Fülle beraubt.

Man könnte das Kriterium: Was Christum treibet, von 2 Seiten her kritisieren. 1.Die Bibel enthält keine Lehren, die nicht direkt oder indirekt mit der Wirklichkeit und Göttlichkeit Jesu zusammenhängen. Selbst die Genealogien (Stammbäume) führen auf Jesus hin. Der Fels, aus dem das Wasser in der Wüste schoss, ist eine Typologie auf Jesus genauso wie die Beinahe – Opferung Isaaks oder das Beschmieren der Türschwellen beim Exodus.  Man könnte die Reihe zwanglos fortsetzen. Ein neutestamentlicher Brief, der uns die im Alten Testament verborgenen Vorschattungen auf Jesus Christus erschließt, ist der Hebräerbrief. In keinem anderen Buch der Bibel wird das Wesen und das Werk von Jesus Christus in so umfassender und zugleich einprägsamer Weise auf dem Hintergrund des AT dargestellt wie im Hebräerbrief. Daneben stellen auch Paulus und Petrus in ihrer Christologie zahlreiche Bezüge zum AT her, sodass man von einer engen Verflechtung zwischen AT und Jesus, die nur schwer aufzutrennen sein dürfte, reden kann. Wie will man also reden von Christus ohne das AT? Besteht hier nicht die Gefahr, die Tiefe der Bedeutung von Jesus und seinem Kreuzestod zu verfehlen? 2. Wie könnten wir rechtfertigen, alles das als unwichtig und unverbindlich zu deklarieren, was nicht direkt Jesus enthält. Die Bibel bietet uns dazu keine Legitimation. Wenn ich es dann trotzdem tue, dann stelle ich mich über Gottes Wort und gegebenenfalls über Jesus selbst, der die Autorität der Heiligen Schrift nirgendwo in Frage stellt. Angesichts dieser Schlussfolgerungen erweckt der Rückzug auf den Halbsatz: Was Christum treibet eher den Verdacht des versteckten Versuchs, seinen persönlichen Lieblings-Jesus oder Lieblingsgott zu legitimieren.

Wie sehr heute Jesus gegen die Bibel ausgespielt wird, soll nochmal ein Kommentar von Siegfried Zimmer verdeutlichen: „Nicht aus Überheblichkeit oder Besserwisserei, sondern aus Gehorsam gegenüber Jesus Christus. Wenn wir von ihm her die Bibel kritisch lesen, stellen wir nicht uns selbst über die Bibel. Wir stellen Jesus Christus über die Bibel. „Jesus Christus treu sein ist wichtiger als der Bibel treu sein… Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel…Die Bibel ist ein durch und durch menschliches Buch, geprägt von den Irrtümern und Kulturen seiner Autoren.  Hier beißt sich doch die Katze in den Schwanz. Niemand von uns heute ist Jesus zu seinen Lebzeiten auf dieser Erde begegnet und hat deshalb unmittelbaren Zugang zum geschichtlichen Offenbarungsereignis Jesus Christus. Wir kennen ihn nur aus der Bibel. Nach Zimmer enthält die Bibel nur bruchstückhafte und verschiedene Deutungen Jesus Christi, was ist dann das entscheidende Kriterium ihrer angemessenen Interpretation? Als Antwort kommt wieder nur ein außerbiblisches Kriterium in Frage: In Zimmers Augen ist das die historisch- kritische Bibelwissenschaft, die aber selbst kein einheitliches Bild zeichnet. Was bleibt, ist ein subjektives vom modernen Ausleger konstruiertes und als wissenschaftlich deklariertes Jesus-Bild. Es ist immer der gleiche Kreis, indem sich die Begründungen für einen Kanon im Kanon oder für eine Christusmitte unter Aufgabe einer Einheit der Schrift als Ganzes dreht. Wenn wir die Einheit der Schrift aufgeben, dann verlieren wir nicht nur einen Teil der göttlichen Offenbarung, wir verlieren am Ende Christus selbst. Eine Trennung von der Einheit und der Mitte der Schrift wird auch dem Selbstanspruch der Bibel nicht gerecht. Da Jesus in der Bibel die Einheit und die Mitte der Schrift gleichzeitig ist, lassen sich beide so wenig trennen, wie sich die göttliche Natur Jesu von der menschlichen Natur trennen lässt oder das Menschen-Wort vom Gottes-Wort. John Stott fasst den reformatorischen Konsens so zusammen: „Die Autorität Christi und die Autorität der Schrift gehen zusammen… Wir müssen uns daher der Autorität der Schrift unterwerfen, wenn wir uns Christus unterwerfen wollen, denn die Autorität der Schrift beinhaltet die Autorität Christi.“

Die Einheit der Schrift ist nicht nur eine wichtige Bedingung für eine der Offenbarung angemessene Auslegung, sondern auch für deren Schutz vor bzw. deren Verteidigung gegen Irrlehren. Ohne Einheit verliere ich den Kampf gegen Häresie (Irrlehre). Paulus spricht in seinen Briefen von der gesunden Lehre, die von Häretikern nicht beachtet würden. (1.Tim 1,10;4,6; 2.Tim.2,15; Tit.1,9; 2,1.7f). Wenn das Neue Testament widersprüchlich wäre, wie sollte es dann eine gesunde Lehre anbieten können? Die Verteidigungsfähigkeit setzt eine Einheit der Bibel voraus. Ich kann mich nicht für das Evangelium einsetzen, wenn ich nicht weiß, worin es besteht. Nach Käsemann begründe die Vielfalt der angebotenen Deutungen und Widersprüchlichkeiten, wie wir oben gesehen haben, auch die Vielfalt der Konfessionen und Kirchen. In letzter Konsequenz bedeutet die Auflösung der Einheit der Schrift demnach eine völlige Relativierung der Wahrheit. Es werden die Pforten für das Eindringen von zahlreichen Irrlehren geöffnet. So kann ich aus der Bibel das herausgreifen, was mir passt und meine eigene Lehre fabrizieren. Genau das ist auch in vielfacher Weise passiert. Stichwort: Zeugen Jehovas, Heimholungswerk Jesu Christi, Neuapostolische Kirche, Mormonen, Befreiungstheologie, feministische Theologie, Gott ist tot-Theologie, um nur einige zu nennen. Übrigens, auch eine Ablehnung extremer Formen der Pfingstbewegung kann ich nur gut begründen auf der Grundlage der Einheit der Schrift. Eine christliche Irrlehre ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie die Einheit der Schrift vernachlässigt und nur die für ihre Lehre entscheidenden Aussagen herausgreift, ergänzt durch außerbiblische Ansichten. Die Aufgabe der Einheit der Schrift ist das Tor zur Häresie.

Bisher wurde immer nur von der Einheit der Schrift gesprochen. Hier soll nun noch der Begriff der Klarheit erwähnt werden. Die Klarheit und die Einheit gehören eng zusammen. Oft wird von Bibelkritikern das Argument vorgebracht, die Bibel sei doch aus sich heraus nicht klar verständlich. Sie biete selbst viele verschiedene Deutungen ihrer Inhalte an. Nur mit Hilfe der historischen Kritik könne man die Bibel verstehen. Ohne Zweifel gibt es manche schwer verständlichen Stellen in der Bibel. Darauf muss man erwidern: Einerseits wäre es nicht sachlich, vom Einzelfall auf die Gesamtheit zu schließen, andererseits werden gerade die schwer verständlichen Stellen nach dem Prinzip der Selbstauslegung durch andere Stellen erhellt, sodass die Einheit zur wichtigen Voraussetzung auch für die Klarheit wird. Für die lutherische Orthodoxie war klar, dass die dunklen Stellen aus den hellen zu erklären seien. Ein untergeordnetes Argument besagt, man könne die Bibel nur dann richtig verstehen, wenn man den Hintergrund der Entstehung des Textes kenne. Das ist allerdings eine Behauptung, die so pauschal nicht stimmt und allenfalls auf manche schwierigen Bibelstellen zutrifft. In der Literaturwissenschaft ist man sich bewusst, dass dichterische Texte, die für das Verständnis auf die Anmerkungen von Literaturwissenschaftler angewiesen sind, keinen großen Bestand haben und rasch vergessen werden. Jedes Liebespaar versteht ein Liebesgedicht besser als derjenige, der sich in einer Literaturgeschichte über die Umstände seiner Entstehung und die Biografie orientiert hat. (Eta Linnemann : Was ist glaubwürdig- Die Bibel oder die Bibelkritik) Auch für die Mathematik trifft die oben genannte Behauptung nicht zu. Den Satz von Pythagoras kann jeder Schüler sich aneignen und anwenden, ohne auch nur den Namen der Schrift zu kennen, in der ihn der Mathematiker erstmals geäußert hat und den Adressaten zu kennen, an den er sie gerichtet hat. (Eta Linnemann). Viele Aussagen der Bibel sind zeitlos und auch ohne historischen Hintergrund verständlich. Wenn profane antike Texte auch ohne die Kenntnisse der Literaturwissenschaft bis heute verständlich sind, dann gilt das doch noch viel mehr für biblische Texte, deren Autor letztlich Gott selbst ist.

Schließlich ist noch zu erwähnen: Mir ist bei der Beschäftigung mit den in diesem Skript enthaltenen Themen Gottes Wort erneut groß geworden. Immer wieder habe ich gestaunt darüber, was alles in der Bibel steht, worüber ich bisher immer hinweggelesen habe. Manchmal kam es mir vor als wären manche Stellen extra geschrieben worden, um die Argumente der historischen Kritik anachronistisch zu entkräften. Vielleicht gab es tatsächlich damals Irrlehren oder Abweichungen vom gott-gewollten Schriftverständnis, die Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten mit der Bibelkritik heute hatten. (Stichwort Gnosis) Ich bin allerdings in meinen Beobachtungen zum Schluss gekommen, dass manche Worte in weiser Voraussicht Gottes in der Bibel stehen, um uns Werkzeuge zur Verteidigung zur Verfügung zu stellen. Die Bibel als Einheit ernst zu nehmen, bedeutet jedoch nicht nur, die Argumente für ihre Verteidigung in der Bibel selbst zu finden, sondern gleichzeitig einen enormen Schritt, tiefer in das Verständnis derselben einzutauchen und die Größe Gottes lernen zu erkennen. Gottes Wort ist wie ein Netz, das enorm viele Querverbindungen und in ihrer Geschichtlichkeit auch gleichzeitig zahlreiche typologische Vorwegnahmen enthält. Die Einheit ist wie ein roter Faden, der sich durch die gesamte Bibel von der Genesis bis zur Johannes-Offenbarung zieht. Obwohl ca. 40 Schreiber über einen Zeitraum von 1500 Jahren daran geschrieben haben, erkennt man die eine Handschrift. Es ist die Handschrift des lebendigen Gottes, der sich uns offenbart hat. Kein menschliches Buch hat die Welt so geprägt wie die Bibel. Kein literarisches Werk hat jemals so viele Menschen geprägt, hat die Welt so nachhaltig verändert und hat in seiner 2000-jährigen Geschichte so wenig an Popularität eingebüßt. Es ist das Buch der Bücher.