Jungfrauengeburt

An den deutschen staatlichen theologischen Fakultäten gibt es wohl kaum noch Theologieprofessoren, die an eine Jungfrauengeburt glauben oder dies für wichtig halten. Wenn man heute eine Umfrage zur Historizität der Jungfrauengeburt an den theologischen Ausbildungsstätten machen würde, dann wäre dieses Thema an oberster Stelle der Abschussliste. Die Jungfrauengeburt wird heute in der Regel nur noch auf einer theologischen Ebene für glaubhaft gehalten. Die Historizität wird zumindest stark in Frage gestellt, meist mit dem Zusatz, das sei auch gar nicht so wichtig. Auch in Texten der EKD, die ich gelesen habe, verwendet man eine derartige unspezifische Sprache. Als allseits bekannte Theologin und ehemalige EKD-Ratsvorsitzende, die eine historische Dimension der Jungfrauengeburt ablehnt, wäre Margot Käßmann zu nennen. Sie äußert in einem Spiegelinterview: „Da bin ich ganz Theologin des 21.Jahrhunderts, Ich glaube, dass Maria eine junge Frau war, die Gott vollkommen vertraut hat, aber dass sie im menschlichen Sinn Jungfrau war, das glaube ich nicht“. Nichts anderes vertritt auch der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider. In einem IDEA-Interview bekennt er, dass für ihn Jesus der leibliche Sohn von Josef sei, der erst bei der Taufe als „Sohn Gottes“ adoptiert wurde. Die Aussage im Glaubensbekenntnis, „geboren von einer Jungfrau“, sei für den Glauben „nicht entscheidend“ und er fügt hinzu: „Vernünftige Menschen fragen sich, was in Glaubensfragen mehr oder weniger wichtig ist. Wer alles gleich wichtig nimmt, ist ein Fundamentalist!“  Genauso ablehnend steht der Jungfrauengeburt der neue EKD-Ratsvorsitzende Prof. Heinrich Bedford-Strohm gegenüber. Er meint: „Wenn man von der Jungfrauengeburt spricht, ist das Entscheidende, dass Jesus als ein ganz besonderer Mensch gekennzeichnet werden soll … Es geht darum zu zeigen, dass dieser Mensch vom Geist Gottes beseelt war – und das von Anfang an.“ Für ihn sei die Jungfrauengeburt „kein zentraler Bestandteil des Glaubens“. (Aus: „Streit um Weihnachten– Geboren von der Jungfrau Maria?“ von Alexander Schick).  Olav Latzel, ein evangelikaler Bremer Pfarrer, der vielen aus dem Internet bekannt sein dürfte, hat in einem Vortrag berichtet, wie bei einer Weihnachtsfeier von vielen Pfarrerinnen und Pfarrern man sich gewundert habe, dass es noch wenige Pfarrer gebe, die an eine Jungfrauengeburt glaubten. Er sei auf die Behauptung einer Rednerin, „an die Jungfrauengeburt glaube wohl heute keiner mehr“, zusammen mit wenigen anderen aufgestanden und habe protestiert: „Doch wir schon noch“! Ich kann mich erinnern, dass ich während meiner Schulzeit auch von meinem damaligen liberalen Religionslehrer, der uns die Methodenschritte der historisch kritischen Theologie näherbringen wollte, mit den Zweifeln an der Jungfrauengeburt konfrontiert worden bin. Dass man vielleicht einzelne Elemente der Urgeschichte historisch in Frage stellt, habe ich damals noch verstehen können, dass man jedoch so einen zentralen Punkt wie die Jungfrauengeburt in Frage stellte, das konnte ich zunächst nicht verstehen.

Warum stellt man die Jungfrauengeburt in Frage?

  1. Eine Jungfrauengeburt sei biologisch-medizinisch nicht möglich. Sie widerspreche den Naturgesetzen
  2. Das älteste Evangelium, das Markusevangelium, enthalte keine Kindheitsgeschichte. Nur Matthäus und Lukas berichten darüber und dann auch in sehr unterschiedlichen Weisen. Das Matthäus und Lukas-Evangelium seien jünger und seien deshalb von der nachösterlichen Gemeinde aufgrund einer im Vergleich zum 1. Evangelium längeren Überlieferungsschichte stärker an die Glaubensinhalte der Gemeinde angepasst worden. So habe sich die Lehre von der Doppelnatur Jesu auch in der Auseinandersetzung mit den gnostischen Einflüssen schon stärker herauskristallisiert. Man habe deshalb Jesus eine Jungfrauengeburt angedichtet.
  3. Matthäus habe eine prophetische Aussage über eine Jungfrauengeburt in Jesaja 7,1 erfüllt sehen wollen. Matthäus erwähnt dies in seinem Bericht, habe diese Stelle, wo nur von einer Geburt von einer jungen Frau die Rede sei, selbst missverstanden oder umgedeutet in eine Jungfrau.
  4. Paulus spreche nirgends von einer Jungfrauengeburt. Dies scheine zu seiner Zeit noch nicht allgemein anerkannte Lehre gewesen zu sein. Paulus habe seine Briefe alle vor der Abfassung des Lukas- und Matthäus-Evangeliums geschrieben.
  5. Es gebe auch in nichtjüdischen Kulturen der damaligen Zeit Erzählungen, in denen große Helden (Alexander der Große, Perseus und Heracles, Plato) aus einer Verbindung zwischen Gott und Mensch hervorgegangen seien. Die junge christliche Gemeinde habe diese Mythen aus anderen Kulturen übernommen, um die Göttlichkeit Jesu zu unterstreichen.

Soweit mal. Das sind die wichtigsten Argumente, die man gegen eine tatsächliche Jungfrauengeburt ins Feld führt.

Nun möchte ich aber auf die einzelnen Gegenargumente eingehen: Der Ausgangspunkt der Kritik an der Jungfrauengeburt (1. Punkt) ist eine Wunderunmöglichkeitstheorie (=WUT), die auf einem aus der Aufklärung stammenden Wissenschaftsverständnis und dem damit verbundenen naturalistischen Weltbild basiert. Es ist also ein weltanschauliches Vorurteil, das wie eine Brille vor die Augen des Kritikers gesetzt wird, und dessen Wertigkeit heute als äußerst fraglich anzusehen ist. (Siehe Kapitel über Wunder). Der Einwand, man wolle dem modernen Menschen eine derartige Geschichte nicht mehr zumuten, ist irreführend, da ich ihm dann auch nicht zumuten kann, an eine Ewigkeit im Himmel zu glauben. Ein anderer an der Stelle häufig vorgebrachter Einwand lautet: Matthäus und Lukas hätten selbst hier keine historischen Tatsachen berichten wollen, wieso sollten wir dann auf die Historizität insistieren. Gegenargument: Matthäus und Lukas berichten nicht nur in groben Zügen, wie man dies bei einer Erzählung mit ausschließlich symbolischer Bedeutungsabsicht tun würde (Gleichnisse Jesu), sondern berichten zahlreiche Details, die man nur bei tatsächlichem Geschehen erwartet. Zum Beispiel lässt die Beschreibung der Reaktion Marias „Wie soll das geschehen, der ich von keinem Mann weiß“, auf die Absicht schließen, dass hier wirkliches Geschehen berichtet werden will. Das gleiche gilt für die Reaktion Josefs im Matthäus-Evangelium, der seine Frau verlassen will, weil er eine gesellschaftliche Schande befürchtet. Wären diese Geschichten erfunden, dann müsste man den Schreibern eine ausgeklügelte trickreiche Täuschung unterstellen. Klaus Berger meint dazu: „So eine Geschichte erfindet man doch nicht.“ Die detailreiche Schilderung der Ereignisse legt Authentizität nahe. Wir wissen im Übrigen, dass Lukas in seinem Prolog in Lukas 1 auf eine genaue und sorgfältige Recherche mit Befragung von Augenzeugen Wert gelegt hat, also möglicherweise sogar Maria selbst oder nahe Verwandte befragt hat. Dass die beiden Evangelien-Berichte gewisse Unterschiede aufweisen, ist nach meiner Auffassung auch kein gutes Argument. Man darf nicht erwarten, dass jeder Schreiber alles geschrieben hat, was er wusste und alles wusste, was tatsächlich geschah im Falle der Kindheitserzählungen. Die Unterschiede lassen sich auch gut durch ein unterschiedliches Zielpublikum, durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, und durch individuelle Selektion aus dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial erklären. Dies trifft generell auf alle synoptischen Berichte zu. Allerdings kommt bei den Erzählungen außerhalb der Kindheit noch das Argument der Selektion der Wahrnehmung bei Augenzeugen hinzu, was ja beim vorliegenden Thema nicht der Fall ist, da es keine Augenzeugen außer Maria gab. Dass sich im Verlauf der Überlieferungsgeschichte das Zeugnis vom ursprünglichen Geschehen stark verändert hat, vielleicht ausgeschmückt wurde, halte ich auch für äußerst unwahrscheinlich. Bei einer Datierung der Abfassung der Evangelien spätestens im Zeitraum 70- 80 nach Christus, (Diese Datierung beruht allerdings auf historisch- kritischen Vorurteilen, siehe entsprechendes Kapitel), lebten mit großer Wahrscheinlichkeit noch viele Ohrenzeugen der Generation von Jesus, die vermutlich eine verzerrte Darstellung des Lebens Jesu nicht akzeptiert hätten. Andere Untersuchungen gehen sogar davon aus, dass Teile des Evangeliums schon kurz nach der Kreuzigung geschrieben worden sind. Stefan Gustavsson schreibt in seinem Buch: Kein Grund zur Skepsis: „Der theologisch liberale John A.T.Robinson publizierte 1976 ein viel beachtetes Buch, in dem er für eine Entstehung des gesamten Neuen Testamentes vor 70 n. Chr. argumentiert. Er sieht es als durchaus plausibel an, dass das erste Evangelium- Markus-, wie er meinte- bereits in den 40er Jahren geschrieben sein könnte…. Professor James G Crossley von der Universität in Sheffield- selbst Atheist-, der auch eine Debatte mit dem bekannten christlichen Philosophen William Lane Craig über die Auferstehung von Jesus geführt hat- datiert das Markusevangelium auf das Ende der 30er oder den Anfang der 40er Jahre.“ Das rückt die Schreiber noch näher ran an das tatsächliche Geschehen. Wenn man akzeptiert, dass der Schreiber des Matthäusevangeliums der Jünger war, der mit Jesus jahrelang unterwegs war, dann ist das oben genannte Argument sowieso nicht mehr aufrechtzuhalten. Doch selbst bei einer späteren Datierung ist es unwahrscheinlich, dass sich in wenigen Jahren das Erzählgut schon so stark verändert hat, dass unser Blick auf den historischen Jesus, wie vielfach behauptet, völlig verstellt wurde. Im ungünstigsten Fall beträgt das Zeitintervall zwischen den Geschehnissen und der Abfassung des Matthäus- oder des Lukasevangeliums maximal 40 Jahre. Erzählungen über Meilensteine der Geschichte und des Lebens Jesu haben sich auch in 40 Jahren nicht unkontrolliert wesentlich verändert außer sie wurden mutwillig manipuliert. Bei der wissenschaftlichen Untersuchung der leiblichen Auferstehung Jesu werde ich auf den Prozess der Überlieferungsgeschichte nochmal näher eingehen.

Zur alttestamentlichen Prophetie einer Jungfrauengeburt: Matthäus schreibt: „Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Jesaja 7:1) „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns“ In Jesaja steht dann noch: „Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe eine…“. An der Stelle in Jesaja steht ein hebräisches Wort (alma), das junge Frau aber auch Jungfrau bedeuten kann. Für Jungfrau gebe es ein anderes hebräisches Wort (bethulah). Für die Kritiker ein klarer Beweis dafür, dass Matthäus selbst die Stelle zu seinen Gunsten umgedeutet hat. Dann muss man sich allerdings fragen, worin das besondere Zeichen bestand. Dass ein Sohn von einer jungen Frau geboren wird, ist das normalste der Welt. Es kann sich nur um die andere wenn auch seltenere Bedeutung- Jungfrau- gehandelt haben. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass schon vor Jesus dieses Wort als Jungfrau aufgefasst wurde. In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des AT, die im dritten Jahrhundert (285-246 v. Chr.) vor Jesu Geburt abgefasst wurde, wird das hebräische Wort alma mit Jungfrau (parthenos) übersetzt. Offensichtlich gab es damals schon jüdische Gelehrte, die in der Jesaja-Stelle eine Jungfrau vor Augen gehabt haben. Ein weiteres Indiz ist die Beobachtung, dass das seltene Wort alma insgesamt nur 6 x im AT auftaucht und mit großer Wahrscheinlichkeit jedes Mal nicht im Sinne einer verheirateten Frau gebraucht wird, sondern nur im Sinne einer unverheirateten.  (Hellmut Frey, bzw. Karl Baral in Handbuch der bibl. Glaubenslehre S. 216). Nun könnte man sich fragen, warum Jesaja nicht das eigentliche Wort für Jungfrau, nämlich „bethulah“ verwendet hat, wenn er die Jungfräulichkeit betonen wollte. Bethulah bezeichnet die Unberührte.  Der Bezug zum Alter ist hier weniger relevant. Alma bezeichnet die junge geschlechtsreife, heiratswillige Frau. Im Normalfall ist im jüdischen Denken auch die Unberührtheit in dieser Bezeichnung vorausgesetzt. Josh Mc Dowell schreibt als Zitat von M.F. Unger: „Der Heilige Geist gebraucht durch Jesaja nicht das Wort „bethulah“, weil die Gedanken der Unberührtheit und des heiratsfähigen Alters in einem Wort zusammengefasst werden mussten, um der gegebenen historischen Situation ebenso wie dem prophetischen Aspekt, mit dem von der Jungfrau geborenen Messias im Mittelpunkt, gerecht zu werden.“ Übrigens, jüngere griechische Übersetzer wie Aquila, Symmachus oder Theodotion übersetzten Jesaja 7.14 mit- Jungweib. Hier lässt sich aber das voreingenommene Motiv deutlich erkennen, weil sie als Juden vermutlich in einer heftigen Auseinandersetzung mit den jungen christlichen Gemeinden standen, die die Beglaubigung der Jungfrauengeburt aus der Jesajastelle ableiteten. (aus Karl Baral: Handbuch der biblischen Glaubenslehre).

Paulus:

Als nächstes wollen wir das 4. Argument näher betrachten. Es stimmt, dass außerhalb der beiden genannten Evangelien die Jungfrauengeburt nicht expressis verbis erwähnt wird. Dies ist das Argument des Schweigens, das in der bibelkritischen Forschung häufig gebraucht wird (Argumentum ex silentio): Wenn so wichtige Vertreter des frühen Glaubens wie Paulus, Petrus oder Jakobus die Jungfrauengeburt nicht erwähnten, dann könne sie nicht zum frühen Glaubensgut der ersten Christen gehört haben und habe sich erst später entwickelt. Wie stichhaltig ist dieses Argument nun? William Lane Craig sagt dazu: „Das Fehlen des Beweises ist noch nicht der Beweis für das Fehlen.“ Er macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass wir für viele historische Ereignisse, die wir glauben, keine Beweise hätten. Im Falle der Jungfrauengeburt hätten wir eine ganze Reihe von Beweisen, z.B. den Bericht eines bekannten zuverlässigen Historikers, nämlich Lukas, insofern sei es nicht berechtigt, das Fehlen der Jungfrauengeburt im übrigen NT als Beweis für eine nachträgliche Erfindung zu werten. Darüber hinaus stimmt es auch nicht, dass die Lehre von der Jungfrauengeburt z.B. bei Paulus nicht nachweisbar wäre. Ich möchte das anhand einiger aufschlussreicher Aussagen von Paulus zeigen: Der Vers, mit dem man das Fehlen untermauert, ist Galater 4:4. Hier schreibt Paulus: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetzt getan.“ Hier ist tatsächlich nicht von einer Jungfrau die Rede. Aus dem Kontext (unter das Gesetzt getan) ist zu entnehmen, dass es Paulus hier vor allem darum ging, den menschlichen Teil der Herkunft von Jesus in den Vordergrund zu stellen. Dazu ist es aufschlussreich zu wissen, dass der frühchristliche Doketismus, nach dem Jesus nur einen Scheinleib hatte, damals zunehmend Einfluss gewann. Nach doketischer Lehre ist alle Materie niedrig und schlecht. Jesus sei deshalb ganz Gott geblieben und hätte während seines irdischen Daseins nur einen Scheinleib angenommen, sodass die menschliche Natur Jesu verneint wurde. Auf diesem Hintergrund macht es Sinn, dass Paulus hier ganz besonders die menschliche Seite seiner Doppelnatur betonte. Im Übrigen lässt sich am Gesamtzeugnis, das uns Paulus hinterlassen hat, durchaus erkennen, dass Paulus unausgesprochen von der Jungfrauengeburt ausging. Außerdem sollte man sich bewusst machen, dass Paulus von Lukas jahrelang begleitet wurde und die Jungfrauengeburt mit großer Wahrscheinlichkeit zum selbstverständlichen gemeinsamen Glaubensgut zwischen beiden gehörte. Oder anders gesagt, es ist unwahrscheinlich und es gäbe keinerlei Anzeichen dafür, dass Lukas und Paulus hier unterschiedliche Auffassungen von der Geburt Jesu vertraten. Um einige Bibelstellen zu nennen, in denen indirekte Hinweise auf die Lehre von der Jungfrauengeburt zu finden sind: Philipper 2:6: „Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt…“. Hier wird klar die Doppelnatur Jesu bzw. die Präexistenz, also, dass Jesus schon vor seiner irdischen Geburt im Himmel bei seinem Vater lebte, bezeugt. Die Präexistenz macht eine Jungfrauengeburt erforderlich. Eine rein biologische Zeugung von Jesus würde eine Präexistenz theologisch ausschließen. Karl Baral schreibt dazu in Form eines Zitats von G.Ebeling und Walter Künneth: „Die präexistente Sohnschaft schließt … die… Lehre von der Adoption des Menschen Jesus durch Gott aus und betont seine wesenhafte, analogielose Gemeinschaft mit dem Vater, die Seinswirklichkeit des Sohnes jenseits der Zone erwählter prophetischer Menschen oder Zeugen des Glaubens“. Tatsächlich glauben viele Leugner der Jungfrauengeburt nicht an die Präexistenz Jesu, oder sie glauben sie nur auf einer geistlich-theologischen Ebene, also quasi nur in der Theorie. Unabhängig davon müssten sie hier doch wenigstens anerkennen, dass bei Paulus der Glaube an die Präexistenz Jesu und damit auch indirekt an eine Jungfrauengeburt vorhanden war. Übrigens stellt dieser Sachverhalt ein sehr schönes Beispiel dar, wie beim Verlust der historischen Wirklichkeit auch die theologische Wahrheit flöten geht. Will man diese Stelle aber nicht als ausreichenden Beweis akzeptieren, so könnte man eine weitere Stelle im Brief an die Römer anführen: Römer 5:18f. Paulus stellt hier Adam als den Ausgangspunkt der Menschheit Christus als dem Ausgangspunkt einer neuen Menschheit gegenüber: „Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt. Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten.“ Würde die Gegenüberstellung Sinn machen, wenn Jesus auf natürlichem Wege geboren worden wäre? Ich glaube nicht. Wie könnte Jesus sündlos sein, wenn er auch komplett von Adam abstammen würde? Es würde der Logik der Erbsünde und der Heilslehre, die Paulus hier aufstellt und die er in allen seinen Briefen vertritt, widersprechen. Röm.3,10: „Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer.“ Andererseits müsste man fragen, wie könnte Jesus unsere Schuld sühnen, wenn er selbst Dreck am Stecken hätte, wenn er nicht dank seiner göttlichen Herkunft sündlos geblieben wäre? Röm.3.25: „Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt…“. Eine weitere Stelle, an der Paulus die Präexistenz Jesu unzweideutig zum Ausdruck bringt, ist Kol.1:15f: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. Und er ist vor allem, …“ Eine göttliche Präexistenz, die Mensch wird, und die die Schuld der Welt auf sich nimmt, kann im Denkrahmen von Paulus nur durch eine Jungfrauengeburt ins irdische Dasein gebracht werden, auch wenn er sie nicht expressis verbis formuliert. Wer die Theologie der Jungfrauengeburt bei Paulus verneint, der muss die Dogmatik von Paulus insgesamt in Frage stellen. Es ist nicht möglich, Paulus zu unterstellen, er habe noch keine Jungfrauengeburt vertreten und gleichzeitig seine übrige Heilslehre zu akzeptieren. Das ist so, wie wenn ich einen Apfel essen wollte aber den Zucker, der in ihm steckt, vermeiden wollte. Für einen liberalen Theologen gibt es diesen Widerspruch nicht, da er auch die Theologie von Paulus insgesamt als tendenziös abwertet.

Johannes-Evangelium:

Nicht weniger kann man den Gedanken der Präexistenz im Johannesevangelium im berühmten Johannes-Prolog nachweisen: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort… und wurde Fleisch. Im Verlauf dieses Prologs wird deutlich, dass Johannes indirekt von der Dreieinigkeit spricht, also auch von der Präexistenz Jesu, der die Welt miterschaffen hat. Auch wenn das Johannesevangelium als das jüngste Evangelium gilt, ist es doch bemerkenswert, dass Johannes die Präexistenz Jesu vertrat, aber ebenso wie Markus keine Geburtsgeschichte in sein Evangelium aufnahm. Man könnte dies auch so erklären, dass die Kindheitsgeschichten Jesu in den christlichen Gemeinden allgemein bekannt waren und es keinen Anlass gab, sie nochmal zu erwähnen, zumal Johannes bei der Geburtsgeschichte vermutlich über keine zusätzlichen Informationen verfügte. Beim Auferstehungsbericht und anderen gemeinsamen Erzählungen bestünde der Unterschied allerdings darin, dass es Johannes hier im Gegensatz zur Geburtsgeschichte wichtig war, seine eigene Augenzeugenschaft und seine persönlichen Eindrücke zu ergänzen bzw. zur Geltung zu bringen und die Historizität damit zu unterstreichen. Beim Johannesevangelium können wir aus einem Bericht eines Schülers des Evangelisten, Ignatius, schließen, dass Johannes die Jungfrauengeburt vertrat und lehrte. Ignatius schrieb z.B. von einem Zeitgenossen und Gegner des Johannes mit Namen Cerinthos, er sei von Johannes in einem öffentlichen Bad gesehen worden, worauf er dann ausrief, man solle fliehen, falls das Bad einstürze, weil Cerinthos, ein Feind der Wahrheit, anwesend sei. Von Irenäus wissen wir, dass Cerinthos die Lehre vertrat, dass unser Herr von Maria und Josef gezeugt wurde, also von zwei normalen Menschen, wie jeder andere Mensch auch. (aus Die Bibel im Test von Josh Mc Dowell S.175 Taschenbuch, S 175). Außerdem vertrat Ignatius als Schüler des Apostels Johannes selbst die Jungfrauengeburt (Siehe unten), wobei es nicht wahrscheinlich ist, dass er in einem so wichtigen Punkt eine andere Ansicht vertrat als sein Lehrer. Wir sehen also, dass, obwohl Johannes die Jungfrauengeburt nicht explizit in seinem Evangelium erwähnte, er sie dennoch vertrat. Das Argument des Schweigens verliert somit seine Bedeutung, wenn man eine Gesamtschau vornimmt.

Markus-Evangelium:

 Schließlich will ich nochmal auf Markus zurückkommen. Hat Markus nicht vielleicht auch schon die Jungfrauengeburt als selbstverständlich vorausgesetzt? In Markus 6,3: „Ist dieser nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und ein Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon? Und sind nicht seine Schwestern hier bei uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm.“ Normalerweise würde hier nach den strengen Regeln der jüdischen Namensgebung der Name des Vaters genannt und nicht der Name der Mutter, auch wenn der Vater schon gestorben war. Der Name des Vaters wurde nur dann nicht genannt, wenn er unbekannt war. Dies ist ein direkter Hinweis darauf, dass die Vaterschaft Jesu in der Öffentlichkeit nicht geklärt war. Daneben taucht in seinem Evangelium auch das Bekenntnis zur ewigen Gottes-Sohnschaft Jesu auf, als Jesus vom Hohenpriester explizit danach gefragt wird. MK14,61: „Da fragte ihn der Hohepriester abermals und sprach zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin’s; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels.“ Wohlgemerkt: Jesus wurde nicht zum Tode verurteilt, weil er hier eine ethische Seelenverwandtschaft, sondern weil er eine Wesensgleichheit mit Gott dem Hochgelobten bezeugt hat, wodurch der Tatbestand der Gotteslästerung erfüllt war. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Setzt die Gottessohnschaft im damaligen Denken und im vorliegenden Kontext nicht automatisch eine Inkarnation bzw. eine Jungfrauengeburt voraus? Bei Paulus lässt sich dieser Zusammenhang indirekt, wie oben beschrieben, nachweisen. Will man diese Frage verneinen, dann müsste man aber gleichzeitig den Verdacht ausräumen, dass man hier nicht die liberalen, vielschichtigen modernen Umdeutungen von Inkarnation und Gottessohnschaft zum Ausgangspunkt der Interpretation gemacht hat. Das heißt, die Doppelnatur Jesu hätte weder bei Markus noch bei Paulus zum vorausgesetzten Bestandteil ihrer Glaubensüberzeugung gehört. Das scheint mir aufgrund der Datenlage äußert fragwürdig zu sein.     

Zusammenfassend können wir also annehmen, dass die Präexistenz und die Jungfrauengeburt zum frühen Glaubensinhalt der ersten Christen gehörte und unstrittiger Bestandteil des erweiterten Bekenntnisses war. Paulus und die übrigen Schreiber des NT haben sie zwar nicht explizit erwähnt, sie haben sie aber vorausgesetzt, wie man es aus ihren Aussagen entnehmen kann. Das ergibt sich auch nicht zuletzt aus der Gesamtheit ihrer Heilslehre. Die Jungfrauengeburt weist auf die ewige göttliche Sohnschaft Gottes hin. Sie passt sich hervorragend ein in das heilsgeschichtliche Handeln Gottes und ist zweifelsfrei ein wunderbares, aber auch kohärentes (schlüssiges) Element im Glaubenssystem der Bibel insgesamt, wenn man die Theologie der Dreieinigkeit als von der Bibel vorgegeben begreift. Es ist ein hervorragendes für uns Menschen nachvollziehbares Bindeglied zwischen Altem- und Neuem Testament und unterstreicht die Einheit der Schrift, die eben nicht nur einen beliebig ausgewählten Teil der Heiligen Schrift umfasst, sondern einen Bogen spannt von Genesis 1 bis zur Offenbarung. Wenn man also annimmt, die Jungfrauengeburt sei erfunden, dann müsste man den Erfindern nicht eine reiche Fantasie bescheinigen, sondern einen Geniestreich von hoher philosophisch-theologischer Kompetenz.

Nun noch zum Argument der Parallelen in anderen Mythologien. Erzählungen von einer Art Jungfrauengeburt gibt es tatsächlich vor allem in der griechischen Kultur der damaligen Zeit. Bei Plato weisen einige Berichte darauf hin, dass er ohne Geschlechtsverkehr gezeugt wurde. Von Alexander dem Großen glaubt man, er sei nicht von einem irdischen Vater, sondern vom griechischen Hauptgott, Zeus selbst gezeugt worden. Perseus, eine mythologische Heldenfigur der griechischen Göttersagen, soll aus einer Verbindung von Danae und Zeus hervorgegangen sein.

Gegenargument: Das Argument der Parallelen in anderen Kulturen hatte früher immer Eindruck auf mich gemacht, bis ich mir die Sache näher angeschaut habe. Dass es in anderen Kulturen ähnliche Geburtserzählungen bei Helden gibt, ist noch längst kein Beweis dafür, dass es bei Jesus nicht tatsächlich so passiert ist. Vom Standpunkt des Kritikers aus schürt es im günstigsten Fall einen Verdacht, der aber durch andere Verdachtsmomente untermauert werden müsste, um nicht wieder in sich zusammenzubrechen. Die anderen möglichen Verdachtsmomente beruhen allerdings auf Hypothesen, wie oben gezeigt wurde, sodass das Argument der Entlehnung des Motivs aus der griechischen Götterwelt äußerst schwach ist. An der Stelle sollten wir uns fragen, wie wahrscheinlich es wohl ist, dass sich Matthäus und Lukas tatsächlich in der griechischen Götterwelt bedient haben. Prof. Klaus Berger schreibt dazu: “Die anderen antiken Erzählungen erzählen jeweils vom Ehebruch eines Gottes, der sich pikanterweise mit einer menschlichen Frau einlässt. Hatten frühchristliche Evangelisten nichts anderes zu tun, als Jesus direkt mit diesen heidnischen Sex-Geschichten in Verbindung zu bringen. Man bedenke, die Kindheitsgeschichten stammen aus judenchristlichem Milieu, das gegenüber der Frivolität der heidnischen Geschichten besonders empfindlich war.“Es ist also äußerst unwahrscheinlich, dass die Autoren der Evangelien die Darstellung der Geburt Jesu plagiiert haben (übernommen und gefälscht haben). Denn warum sonst hätten sie dies tun sollen, wenn es nicht einen realen historischen Anlass dazu gegeben hätte? Das Argument ist nicht mehr stichhaltig, sobald man es sich genauer anschaut.

Es kommt noch ein weiterer Aspekt mit dazu: Wir haben gelernt, dass schon im 2. Jahrhundert vor Christus die Vorstellung nachweisbar ist, dass der Messias von einer Jungfrau geboren wird. Bedenkt man außerdem, dass es hier nur um eine Übersetzung ging, deren hebräischer Originaltext auf das 7. Jahrhundert vor Christus zurückgeht, (Jesaja) dann lässt sich zumindest vermuten, dass die Erwartung oder das Motiv einer außergewöhnlichen Geburt im Sinne einer Jungfrauengeburt schon lange vor unserer Zeitrechnung vorhanden und eventuell auch verbreitet war. Klaus Berger schreibt dazu (in die Bibelfälscher S.242): „So gibt es eine Tradition im Judentum, nach der Gott sich selbst, aber als Mensch, zeigen wird.“ Diese Hoffnungen bewegen sich im Horizont der erweiterten Bundesformel. 3.Mose 26,12:„Ich will meine Wohnung unter euch haben und eurer nicht überdrüssig werden. Und ich will unter euch wandeln und will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein.“ Hesekiel 37,27: „Meine Wohnung soll unter ihnen sein, und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein, damit auch die Völker erfahren, dass ich der HERR bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum für immer unter ihnen sein wird.“ Es gibt also eine Hoffnung im Alten Testament, dass Gott selbst zu den Menschen kommen wird, die auf die Zeit des Bundesschlusses am Sinai zurückgehen könnte. Nimmt man noch die messianische Prophetie in Ps.2,7 mit dazu, in der es heißt: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“, dann ergibt sich das schon alte Bild der Erwartung einer Menschwerdung Gottes, das im alten Judentum nur konturenhaft angelegt war, aber erst mit dem tatsächlichen Kommen Jesu richtig sichtbar wurde. Angesichts dieser Erkenntnis schwindet die Kraft des Arguments, es habe eine Abhängigkeit des Motivs der Jungfrauengeburt von anderen Kulturen gegeben. Demnach könnte das Abhängigkeitsverhältnis auch umgekehrt sein, als von liberalen Theologen behauptet. Nicht die Schreiber der Evangelien hätten sich in der griechischen Götterwelt bedient, sondern die Griechen hätten Motive aus der Erwartung der Juden übernommen.

Genauso gut könnten es aber auch völlig unabhängige Entwicklungen sein. Dass man einem Helden mit großen übermenschlichen Fähigkeiten“ eine besondere Geburt andichtet und diese mit einer göttlichen Zeugung in Verbindung bringt, könnte auch aus einem allgemeinen Versuch oder einer menschlichen Grund- Motivation entspringen, eine Erklärung für Phänomene von außergewöhnlicher menschlicher Begabung zu liefern. Die Häufigkeit solcher Geschichten über göttliche Zeugungen von Königen oder außergewöhnlichen Menschen in anderen Kulturen spräche dafür. Hierzu brauche ich keine Parallele in anderen Kulturen, die mir Pate steht. Deshalb wäre es nach meiner Einschätzung auch denkbar, dass die Vorstellung einer übernatürlichen Zeugung von Menschen in den griechischen Mythologien unabhängig von den alten Erwartungen einer Jungfrauengeburt im frühen Judentum entstanden sind. Das frühe Vorhandensein der Erwartung einer Jungfrauengeburt schon Jahrhunderte vor Jesus lässt in jedem Fall eine literarische Abhängigkeit von griechischen Göttermythologien unwahrscheinlich erscheinen. Dieser Aspekt kann nur dann außer Acht gelassen werden, wenn ich voraussetze, dass die Vorstellung der biblischen Jungfrauengeburt erst mit dem frühen Christentum aufkam. Da dies allerdings nach all den genannten Untersuchungen nicht der Fall ist, muss ich die Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen, dass keine Abhängigkeit oder eine umgekehrte Abhängigkeit besteht. Sicherlich lässt sich die Richtung der Abhängigkeit schwer beweisen. Eines lässt sich jedoch klar sagen, dass das Argument des Plagiats, also des Abkupferns aus antiken umliegenden Göttermythologien nicht haltbarer ist als sein Gegenteil. An der Stelle möchte ich nochmal Prof. Klaus Berger zu Wort kommen lassen, der das Gedanken-Milieu der universitären Theologie genau kennt und mit folgenden Worten beschreibt: „Ich muss davon ausgehen, dass der Evangelist wusste, was er schrieb. Er war nicht naiv und dumm, er hat nicht irgendwelche Legenden vor sich hingeplappert. Das letztere aber ist für die aufgeklärt rationalistische Forschung eine ausgemachte Sache. Anders als Juristen lässt man nicht die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Betrugs gelten, sondern lauert auf Indizien, um zuzuschlagen. Selbst das geringste Indiz genügt vollauf. Dann ist der Evangelist bereits „erledigt“. Das Verfahren der Forschung erinnert an einen gerade (2012) in der Entstehung begriffenen Beruf, den „Plagiatsnachweisführer für Politikerdissertationen“. Das ist kein Sport, wie oft gesagt wird, sondern ein (auch, wie man hört, bezahlter) Job, der deshalb so erfolgreich ist, weil der geringste Verdacht in der Regel genügt, um eine Person zum Kippen zu bringen. Seit Reimarus stehen die biblischen Autoren im Verdacht, aus ökonomischen Gründen „falsche“ (d.h. der Vernunft spottende) Schriften (noch dazu oft mit falschen Verfasserangaben) unter das Volk gebracht zu haben. Der Exeget verhält sich wie ein Verdachtsfindungsbeauftragter. Er hält seinen Auftrag für grenzenlos und versteht sein Tun als Schutz der Menschenrechte im Allgemeinen und der Vernunft im Besonderen.“

Nun, was spricht noch für die Historizität der Jungfrauengeburt und gegen die oben genannten Argumente?

Das schwerwiegendste Argument für die Historizität der Erzählung ist die mehrfache Bezeugung. Nach den Kriterien von Historikern ist eine Geschichte, die mehrfach unabhängig berichtet wird, wahrscheinlicher echt als erfunden, „denn es wäre äußerst ungewöhnlich, wenn zwei Autoren unabhängig voneinander dieselbe Geschichte über dasselbe Ereignis erfinden.“ (William Lane Craig) In den beiden Evangelien (Matthäus und Lukas) haben wir bemerkenswerterweise zwei unabhängige Berichte über die Jungfrauengeburt Jesu. Beide Berichte sind zumindest in ihren Quellen unabhängig, was man vor allem an den unterschiedlichen Erzählperspektiven erkennt. Matthäus schreibt aus der Perspektive Josefs und Lukas aus dem Blickwinkel von Maria. Allein diese Tatsache spricht für die Authentizität der Berichte. Oft wird behauptet, dass sich beide Erzählungen widersprächen. Dies tun sie jedoch nur auf den ersten Blick, wenn man die unterschiedlichen Erzählperspektiven außer Acht lässt. Geht man jedoch vorurteilsfrei und unter dem Aspekt unabhängiger Quellen an die beiden Schilderungen heran, dann stellt man fest, dass sie erstaunliche Übereinstimmungen enthalten und einer inneren Harmonie folgen. Geburt unter Herodes, Empfängnis durch den Heiligen Geist; Geburt durch die Jungfrau Maria; Verlobung mit Josef; Abstammung von David; Geburtsort- Betlehem; Name „Jesus“ durch den Befehl Gottes. Ankündigung der Funktion Jesu als Retter, Übernahme der elterlichen Verantwortung durch Josef; Begleitung der Geburt von Offenbarungen und Visionen; Wohnort nach der Geburt: Nazareth. Widersprüchlich erscheinen die unterschiedlichen Stammbäume. Aber auch hier löst sich der Widerspruch auf, wenn man erkennt, dass das Matthäusevangelium den Stammbaum Josefs aufreiht und das Lukasevangelium den Stammbaum Marias. Gerade die Spannungen, die sich beim ersten Lesen ergeben, sind nach den Kriterien der Historiker eher ein starkes Indiz für ihre Authentizität und widersprechen der Vorstellung, dass man sie erfunden hat. Bei einer nachträglichen Konstruktion hätte man scheinbare Widersprüche vermieden. Im Ganzen betrachtet sprechen die zweifache unabhängige Bezeugung der Geburtsgeschichte, die fehlenden eindeutigen Widersprüche und die starke innere Übereinstimmung sowie die Spannungen, die sich beim ersten Lesen ergeben, für ihre Historizität.

Ein weiteres Kriterium für die Echtheit ist das frühe Vorhandensein des Glaubens an die Jungfrauengeburt.

Wir haben oben gesehen, dass für eine Mythenbildung um die Jungfrauengeburt zwischen der Himmelfahrt Jesu und der Abfassung der beiden die Kindheitsgeschichte Jesu enthaltenden Evangelien zu wenig Zeit blieb. Es ist schwer vorstellbar, dass sich während der Lebenszeit von zahlreichen Augen und Ohrenzeugen oder auch der Generation danach eine fiktive Geschichte um Jesu Geburt so stark verbreiten konnte und auch akzeptiert wurde. Manche Autoren vertreten die Meinung, dass der frühe Glaube an die Jungfrauengeburt auch ohne das Zeugnis von Lukas und Matthäus nachweisbar wäre, und zwar anhand der Dokumente der frühen Kirchenväter wie Ignatius von Antiochia, Aristides, Justin dem Märtyrer und Irenäus von Lyon. Insbesondere bei Ignatius von Antiochia, der ein Schüler des Apostels Johannes war, finden wir ein ganz frühes Zeugnis (um 110 n.Chr.) der weiten Verbreitung des Glaubens an die Jungfrauengeburt, wenn er in einem Brief an die Epheser schreibt (aus „Die Bibel im Test“ von Josh Mc Dowell TB S.175): „Denn unser Gott, Jesus der Christus, wurde von Maria empfangen, nach dem Heilsplan Gottes zwar aus dem Samen Davids, aber vom heiligen Geiste … Und es blieb dem Fürsten dieser Welt verborgen die Jungfrauenschaft Marias und ihr Gebären, ebenso auch der Tod des Herrn; drei rufende Geheimnisse, die in der Stille Gottes vollbracht wurden.“ Bei Ignatius sollten wir berücksichtigen, dass seine Schriften zu den frühesten christlichen Schriften nach der Entstehung der neutestamentlichen Bücher gehören. Er war selbst ein Leiter der wachsenden Kirche. Somit sind seine Lehren nicht die eines fanatischen Außenseiters, sondern repräsentieren die von der Kirche vorrangig anerkannten Glaubensgrundsätze. Brandon D. Crowe schreibt dazu in seinem Büchlein -Wurde Jesus von einer Jungfrau geboren? :„Darüber hinaus ist festzustellen, dass Ignatius nicht für die Jungfrauengeburt argumentiert; vielmehr stellt er sie bereits zu diesem frühen Zeitpunkt als allgemein anerkannte Glaubensmeinung dar.“ Beim Apostel Johannes konnten wir die Verankerung der Lehre von der Jungfrauengeburt bereits nachweisen. (s.o.). Aristides, auch ein nachapostolischer Verfasser sagt (ca. 125 n.Chr.) über die Jungfrauengeburt: „Die Christen nun leiten ihre Abkunft von Jesus Christus her. Dieser wird der Sohn des höchsten Gottes genannt, und es heißt (von ihm), dass er (als) Gott vom Himmel niederstieg und von einer hebräischen Jungfrau Fleisch nahm und anzog, und in einer Menschentochter der Sohn Gottes Wohnung nahm.“ Justin der Märtyrer (150.n.Chr.) gibt eine Reihe von Hinweisen auf den Glaubenssatz der Jungfrauengeburt.Hier sei nur einer zitiert: „…die Kraft Gottes (kam) über die Jungfrau, beschattete sie und bewirkte, dass sie obgleich sie Jungfrau war, schwanger wurde.“  Auch wenn die genannten Zeugnisse der Jungfrauengeburt alle überwiegend aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts nach Christus stammen, so zeigen sie dennoch, dass das Bekenntnis zur Jungfrauengeburt zum frühen allgemeinen Glaubensbekenntnis gehörte. Gresham Machen schreibt dazu (aus Die Bibel im Test): „Selbst wenn im NT kein Wort über dieses Thema stünde, bewiese doch das Zeugnis des zweiten Jahrhunderts, dass der Glaube an die Jungfrauengeburt lange vor Ende des ersten Jahrhunderts- um es vorsichtig auszudrücken- aufgekommen sein muss“. Vielleicht sollten wir uns an der Stelle auch nochmal bewusst machen, dass die Kirchenväter als Vertreter der Glaubensgrundsätze vieler Gemeinden sich in ihren Schriften und Briefen immer demütig unter die Autorität der Apostel gestellt haben, worauf letztlich auch der Kanon des NT zurückgeht. Somit ist es nicht denkbar, dass eine Lehre, die im zweiten Jahrhundert Allgemeingut war, nicht auch bei den Aposteln im ersten Jahrhundert vertreten wurde. Oder anders ausgedrückt, es wäre nicht vorstellbar, dass die Lehre der Jungfrauengeburt sich im Gegensatz oder in Abgrenzung zu Petrus, Paulus, Matthäus, Jakobus, Thomas, Johannes, Andreas usw. erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts entwickelt hat.   Will man anerkennen, dass der Strom des Heiligen Geistes nicht mit dem letzten Apostel plötzlich abgebrochen ist, so darf man darauf vertrauen, dass die Lehre der Jungfrauengeburt einen historischen Hintergrund und damit einen göttlichen Ursprung hat.

Schließlich würde ich gerne noch eine ganz frühe Gruppe von sogenannten Ebioniten erwähnen, die um 66/67 nach Tansjordanien und Syrien ausgewandert sind. Sie waren der Meinung, man müsse Jes. 7,14 mit -junge Frau- übersetzen und nicht mit -Jungfrau. Daraus lässt sich entnehmen, dass die Gemeinde an die Jungfrauengeburt glaubte.

Nun gibt es noch ein weiteres wichtiges Indiz für die frühe Entstehung des Bekenntnisses zur Jungfrauengeburt. Es gab unter den jüdischen Gegnern des Christentums schon sehr früh das Argument, Jesus sei von einer Ehebrecherin geboren worden. Ethelbert Stauffer schreibt (aus Bibel im Test): „In einem jüdischen Geschlechtsregister aus der Zeit vor 70 erscheint Jesus als Bastard von einem Eheweibe. Schon der Evangelist Matthäus kannte offenbar solche Geschlechtsregister und kämpfte dagegen. Die Rabbinen der Folgezeit nennen Jesus ohne weiteres den Sohn der Ehebrecherin, den Sohn der Hure. Sie wissen auch ganz genau wie der unbekannte Vater hieß: Panthera. Schon in den altrabbinischen Texten hören wir mehrfach von Jesus ben Panthera…“. Hugh Schonfield, ein jüdischer Skeptiker, der die Zeugnisse der jüdischen Gegner untersucht hat, kommt zu dem Schluss, „dass die Verleumdung Jesu als Bastardsohn sehr frühen Datums sei.“  Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Warum hat man Jesus überhaupt mit einer unehelichen Zeugung in Verbindung gebracht, wenn es das christliche Zeugnis der Jungfrauengeburt noch gar nicht gegeben hat? Weiter oben haben wir gesehen, wie schon im Markusevangelium ein Hinweis auftaucht, dass die Vaterschaft Jesu ungeklärt war. Betrachtet man nun diesen Hinweis, den Hinweis im Johannesevangelium (Joh. 8) und das Zeugnis der jüdischen Gegner, so ergäbe sich ein kohärentes Gesamtbild: Die Behauptung der Jungfrauengeburt hat sich nicht erst spät entwickelt, sondern war schon sehr früh (vor 70 n. Christus) in den frühchristlichen Gemeinden vorhanden, sodass es für die Gegner einen Grund gab, eine alternative Erklärung zu finden und zu veröffentlichen. Wenn es dieses frühe Zeugnis nicht gegeben hätte, hätte es keinen Anlass gegeben, Jesus als Bastard zu diffamieren, um die wundersame Empfängnis durch den Heiligen Geist damit zu beseitigen. Für uns heute ist es im Grunde eine Bestätigung dafür, dass das Bekenntnis zur Jungfrauengeburt Jesu schon sehr früh, ja -ich würde sogar sagen- schon zu Lebzeiten Jesu aufgekommen ist. E. Stauffer schreibt dazu: „In der Logienquelle erfahren wir, dass man Jesus als Fresser und Weinsäufer beschimpfte (Mt.11,19; Lk. 7,34). … Mit diesem Scheltwort aber bekämpfte man im antiken Palästinajudentum einen Menschen, der aus einer illegitimen Verbindung stammte und durch seinen Lebenswandel und Glaubensstand den Makel seiner Geburt verriet. Genau in diesem Sinne haben die Pharisäer und ihre Freunde dieses Kampfwort auf Jesus angewandt: Er ist ein Bastard!“  All das Geschriebene deutet doch darauf hin, dass die Frage nach der Vaterschaft Jesu von Anfang im Raume stand. Es musste dafür einen Anlass gegeben haben. Welchen Anlass sollte es dafür gegeben haben, wenn nicht die Behauptung einer Jungfrauengeburt. Selbstverständlich sind das keine Beweise für eine Jungfrauengeburt. Man fragt sich allerdings, wie es zu diesen Fragen kam, wenn Jesus ganz normal von Vater und Mutter gezeugt worden wäre und die Jungfrauengeburt erst eine spätere Erfindung der späten nachösterlichen kreativen Gemeinde gewesen ist, um die Würde Jesu besonders herauszustellen. Die beste Erklärung ist nach meiner Einschätzung immer noch, dass sie ganz früher Bestandteil des Bekenntnisses und des Glaubensinhaltes war. Und wenn das Bekenntnis sehr früh entstanden ist, dann ist es umso unwahrscheinlicher, dass es sich erst im Laufe von Jahrzehenten entwickelt hat.  

Wissenschaftlichkeit sollte bedeuten, dass man das Für und Wider gegeneinander abwägt. Leider geschieht das in der liberalen Theologie zu wenig, weil man das geschlossene Weltbild verteidigen will. Im vorliegenden Fall kann man sich nur für eine Seite entscheiden, wenn man sich vorher für eine weltanschauliche oder philosophische Prämisse entschieden hat. In einem Fall wäre es das Weltbild eines Schöpfers, der seinen Sohn aus der ewigen Gemeinschaft mit dem Vater in die Geschöpflichkeit der diesseitigen Welt geschickt hat, um uns aus dem Mechanismus von Sünde und Tod zu befreien, im anderen Fall das geschlossene Weltbild, in dem ein rein biologisch gezeugter Mensch dank seiner hohen menschlichen Fähigkeiten sich einen göttlichen Anspruch erworben hat.

Warum ist das Festhalten der Jungfrauengeburt als heilsgeschichtliches historisches Ereignis wichtig? Ich glaube der folgende Text ist hier eindeutig!

Jesu Botschaft ist nicht herzuleiten aus menschlichem Nachdenken, und sein Werk ist nicht zu verstehen als Gipfelpunkt menschlichen Heldenmutes. Denn in diesem Falle hätte die Menschheit ihren Erlöser selbst hervorgebracht – und hätte sich damit selbst erlöst. Eben das aber stellte das Evangelium gänzlich auf den Kopf. Denn das Evangelium besagt gerade nicht, dass die Menschheit sich in Christus auf ihre höchste Höhe hinaufgeschwungen habe, sondern dass Gott sich in Christus in die tiefste Tiefe hinabgebeugt hat. Christus ist nicht der erste Mensch, dem es gelang, Adams Sünde abzuschütteln und sich aus der Barbarei des Unglaubens emporzuarbeiten. Er ist kein „Spitzenprodukt“ menschlicher Religionsgeschichte, das Gelehrsamkeit und Erziehungskunst eines schönen Tages hervorgebracht haben, sondern er ist Gottes Wunder allein.

Und weil das die eigentliche Pointe unseres Bekenntnisses zur Jungfrauengeburt ist, darum ist dieses Bekenntnis hochaktuell. Denn es setzt allen Versuchen eine Grenze, Christus aus den religiösen Strömungen seiner Zeit zu „erklären“. Viele stoßen sich ja daran, dass Christen ihn „Gottes Sohn“ nennen. Viele möchten ihn lieber einreihen in die lange Liste der jüdischen Propheten, Lehrer und Sektengründer – und möchten ihn damit relativieren. Sie möchten uns Christus präsentieren als einen Menschen, der Gott besonders nahekam. Unser Bekenntnis lautet aber, dass er Gott war und den Menschen besonders nahekam. Das ist ein gravierender Unterschied! Denn wäre der Erlöser ein Produkt der Menschheit, so müsste in der Bibel stehen, in Christus habe sich die Menschheit mit Gott versöhnt. Es heißt dort aber, dass Gott sich in Christus mit den Menschen versöhnte. Das eine wäre der triumphale Aufstieg der Menschheit zu Gott. Das andere ist das barmherzige Herabsteigen Gottes zu den Menschen. Und nur dies letztere ist Grundsatz des Glaubens. Zu Recht wird also in den Weihnachtsliedern die Jungfrauengeburt besungen und verkündigt. Zu Recht halten wir an ihr als einem Bestandteil unseres Glaubensbekenntnisses fest.

Karl Barth

,,Die Kirche weiß wohl, was sie getan hat, indem sie dieses Dogma sozusagen als Wache vor die Tür zu dem Geheimnis der Weihnacht stellte. Sie wird es niemals gutheißen können, wenn jemand an dieser Wache vorbeieilen zu können meint. Sie wird ihn darauf aufmerksam machen, dass er damit einen Privatweg betritt auf eigene Rechnung und Gefahr … „. Besser kann man es nicht sagen.

Die Jungfrauengeburt ist integraler Bestandteil der biblischen Glaubenslehre. Die Jungfrauengeburt und die leibliche Auferstehung bilden die geschichtliche und theologische Klammer, die das Evangelium in eine biblische Logik fasst. Das ist zwar kein Beweis für ihre göttliche Gültigkeit, aber doch einer der vielen Hinweise auf eine von Gott ausgehende und vom Menschen nachvollziehbare Wirklichkeit zwischen Himmel und Erde, zwischen Jenseits und Diesseits, zwischen Gottes Reich und dem irdischen Reich, verbunden mit der Gewissheit, dass Gott tatsächlich zu uns gekommen ist, um uns da abzuholen, wo wir sind.

Datierung der Abfassung der 3 synoptischen Evangelien

Es ist allgemeiner Konsens, dass die 3 synoptischen Evangelien (Markus-, Matthäus und Lukas-Evangelium erst nach 70 nach Christus geschrieben wurden. Warum? Weil in allen 3 Evangelien die Zerstörung Jerusalems vorausgesagt wird. Die Zerstörung Jerusalems fand 70 nach Christus satt. Da es eine echte Prophetie nicht geben kann aufgrund des wunderkritischen Paradigmas in der HKM, muss das älteste Evangelium, das Markus-Evangelium, frühestens 70 nach Christus geschrieben worden sein. Man habe die prophetischen Worte Jesus nachträglich in den Mund gelegt, um seine Göttlichkeit zu bezeugen. Man nennt diese Art von Prophetie ein Vaticinium ex eventu, eine Vorhersage aus dem Ereignis heraus. In meiner Stuttgarter Erklärungsbibel, die voller historisch-kritischer Bemerkungen ist, wird erklärt, dass es so gut wie sicher ist, dass das Markus-Evangelium nach 70 nach Christus geschrieben wurde. Eine Begründung für diese Behauptung wird nicht geliefert, vielleicht weil es außer der oben genannten keine guten Gründe gibt.

Was ist nun von dieser angeblich wissenschaftlichen Behauptung zu halten?

Prof. Armin Baum schreibt dazu

Bei allen Divergenzen im Einzelnen stimmen sämtliche altkirchlichen Angaben darin überein, dass die Entstehung und Verbreitung der drei synoptischen Evangelien im zeitlichen Umfeld der römischen Wirksamkeit und des römischen Martyriums von Paulus und Petrus erfolgte, also in den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts. Die drei synoptischen Evangelien wurden somit an den Übergang von der Generation der Schüler und Augenzeugen Jesu (30-70 n.Chr.) zur zweiten christlichen Generation datiert.

Mit altkirchlichen Angaben waren die frühkirchlichen Kirchenväter, die also im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus gelebt haben, gemeint. Aus der Bibel selbst lassen sich tatsächlich keine direkten Angaben über die genaue Abfassungszeit gewinnen. Trotzdem gibt es einige Beobachtungen, die indirekt auf eine frühere Datierung hindeuten. Dazu wieder Armin Baum: „Aus dem Text der Evangelien selbst lassen sich nur vage Hinweise zu ihrer Entstehungszeit gewinnen. Dass die Apostelgeschichte abrupt mit dem zweijährigen Romaufenthalt des Paulus (60-62 n.Chr.) endet, passt gut zu der Annahme, das lukanische Doppelwerk sei bald darauf veröffentlicht worden.“ 

Dr. Markus Till fasst die Argumente für eine frühe Abfassung hervorragend zusammen.

Im ganzen Neuen Testament herrscht in Bezug auf die Zerstörung des Tempels, die für die Juden ein absolut prägendes und traumatisches Ereignis gewesen sein muss, ein geradezu dröhnendes Schweigen.

Auch die Märtyrertode von Paulus und vom Herrenbruder Jakobus (einem Ältesten der Urgemeinde in Jerusalem) in den 60er Jahren werden mit keinem Wort erwähnt, stattdessen wird der Märtyrertod des wesentlich unbedeutenderen Stephanus ausführlich geschildert.

Die Apostelgeschichte des Lukas, die er nach seinem Evangelium verfasst hat, bricht noch vor dem Tod von Paulus plötzlich ab.

Eine Textanalyse der Evangelien belegt: Diese Berichte weisen (ganz anders als die Apokryphen) alle Eigenschaften von frühen, authentischen und kenntnisreichen Augenzeugenberichten auf wie z.B. detaillierte und stimmige Kenntnisse von Orten, Namen, Gebräuchen und weiteren Hintergrundinformationen. Aufgrund der vielen stimmigen Details können sie unmöglich das Ergebnis von langer mündlicher Tradition darstellen.

Bei den Apokryphen sind hier nicht etwa die uns bekannten zusätzlichen Schriften im Alten Testament wie Judith, Tobias Makkabäer usw. gemeint, sondern zusätzliche im 2. Und 3 Jahrhundert entstandene Evangelien und andere frühchristliche Schriften, die zu Recht keinen Eingang in den Kanon des Neuen Testamentes gefunden haben. In diesen Schriften wird wohl teilweise die Zerstörung Jerusalems erwähnt und verarbeitet. Es gibt allerdings ein weiteres Indiz dafür, dass die prophetischen Aussagen Jesu nicht nachträglich an die tatsächlichen Geschehnisse angepasst wurden. Das alles bestimmende Element der Zerstörung Jerusalems war das Feuer bzw. der Brand. Josephus Flavius, der jüdische Geschichtsschreiber, berichtet darüber sehr eindrücklich. Nun könnte man fragen: Wenn die Evangelisten Jesus tatsächlich hellseherische Fähigkeiten andichten wollten, hätten sie dann nicht dieses Hauptelement der Zerstörung erwähnt? Von einem Brand oder von Feuer ist aber in den Evangelien nirgendwo die Rede. Dies stellt für mich einen weiteren Grund dar, anzunehmen, dass die Schreiber der Evangelien die wirklichen Ereignisse nicht kannten oder -wenn sie sie kannten- trotzdem sie gewillt waren, die Aussagen Jesu dazu  völlig authentisch wiederzugeben.

Darüber hinaus sollte noch erwähnt werden, dass selbst bei einem Beweis einer späten Datierung noch nicht bewiesen wäre, dass Jesus das Ereignis der Zerstörung Jerusalems zu seinen Lebzeiten nicht vorausgesagt hat. Außerdem müsste man im Falle eines Vaticinium ex eventu die synoptischen Evangelisten der Täuschung bezichtigen. Das ist für mich immer wieder schwer mit dem Wahrheitsanspruch des Evangeliums zu vereinbaren, insbesondere wenn man bedenkt, dass selbsternannte Propheten, die die Zukunft nicht richtig vorausgesagt haben, schon im Alten Testament bestraft wurden. Der Umgang mit prophetischen Aussagen war also ein heikles Geschäft und Menschen zur damaligen Zeit kannten genauso wie wir heute den Tatbestand der Täuschung. Wir dürfen nicht immer glauben, dass die Menschen es mit der Wahrheit nicht so genau nahmen und die Vorspiegelung falscher Tatsachen leichtwertig akzeptiert wurde.

Die Indizien sprechen eindeutig für eine früherer Abfassung der Evangelien. Warum setzt man sich damit nicht auseinander? Die Argumente, die für eine frühe Datierung sprechen, werden in der offiziellen Theologie nicht diskutiert. Sie werden einfach unter den Tisch gekehrt. Das erinnert mich immer wieder an Studien in der Medizin, die deshalb nicht veröffentlicht werden, weil sie für ein Pharmaunternehmen nachteilige Ergebnisse erbracht haben. Warum darf man nicht staunen dürfen über die Größe Gottes, die sich eben auch in erfüllter Prophetie zeigt? Am Beispiel der Datierung der Abfassung der Evangelien kann man sehr schön zeigen, dass historisch kritische Meinungen nicht auf wissenschaftlichen Daten beruhen, sondern auf unbewiesenen wunderkritischen Hypothesen. Einmal habe ich erlebt, wie ein Diskussionspartner bei der Frage nach der Geschichtlichkeit im Alten Testament gemeint hat: „Wenn das stimmen würde, dann müsste ich ja an alles glauben, was im Alten Testament steht.“ Man erkennt daran, dass die Autorität der Berichte durchaus von der Historizität abhängt. Genauso ist es auch in den Evangelien: Die Autorität des Berichteten und Gesagten wächst mit dem Maß der Historizität. Oder andersherum gesagt: Wenn vieles nicht echt ist, was in der Bibel steht, dann kann ich mir meinen Glauben besser nach meinem Gutdünken zurechtbasteln, dann kann ich mir das herausgreifen was mir gefällt und das streichen, was mir missfällt. Das ist nach meiner Einschätzung die Freiheit, die man gewinnt, wenn man ein naturalistisches Weltbild hat. Damit will ich nicht sagen, dass alle liberale Theologen bewusst ein biblisches Weltbild ablehnen, aber unbewusst kommt ihnen die Annahme einer Prophetie- kritischen Haltung sicher entgegen. Wie diese neue Freiheit ihnen beim Umgang mit vielen jahrhundertelang bestehenden zentralen Glaubensinhalten entgegenkommt, werde ich später noch zeigen.  Zusammenfassend nochmal ein Kommentar von Prof. Armin Baum: 

 „Wer es für ausgeschlossen hält, dass Gott, der die Zukunft kennt, seinen Boten gelegentlich einen kleinen Ausschnitt der Zukunft enthüllt, wird die synoptischen Evangelien frühestens 70 n.Chr. datieren. Wer (wie ich) vom Gottesbild des Alten und Neuen Testaments bzw. von einem offenen Gottesbild ausgeht, wird dem von Irenäus mitgeteilten Zeitfenster, den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts, den Vorzug geben.