Historisch kritische Methode:
Die historisch kritische Methode ist heute die Grundlage, auf der biblische Texte erforscht werden. Dabei erhebt die historisch kritische Methode an den staatlichen theologischen Fakultäten, an denen unsere Pfarrer und Religionslehrer ausgebildet werden, einen Alleinvertretungsanspruch für eine wissenschaftliche Exegese (Auslegung) biblischer Texte. Seit dem Rationalismus der Aufklärung im 18. Jahrhundert hat sich diese Methode langsam in der protestantischen Theologie Europas ausgebreitet. Inzwischen dominiert sie nicht nur die protestantischen und katholischen staatlichen Fakultäten, sondern hat auch großen Einfluss in amerikanischen und weltweiten theologischen Ausbildungsstätten. In den letzten Jahrzehnten ist allerdings festzustellen, dass die HKM zunehmend auch Einfluss gewinnt in evangelikalen und freikirchlichen theologischen Ausbildungsstätten (Elstal: Baptisten, Ebersbach: FEG, Tabor in Marburg, St. Chrischona/Schweiz). Ein Laie könnte bei dem Begriff der HKM zunächst meinen, es handele sich lediglich um die Interpretation eines biblischen Textes auf dessen historischen Hintergrund, also um die Frage, in welche historische, gesellschaftliche oder kulturelle Situation hinein ein Text geschrieben worden ist. Wenn das so wäre, dann wäre gegen die HKM nichts einzuwenden und man könnte dann auch nicht behaupten, dass sie erst im 18 Jahrhundert entstanden ist. Eine Beurteilung der Texte in deren historischen Kontext hat man schon immer praktiziert. Jeder aufrichtige Bibelleser wird zum besseren Verständnis schwieriger Stellen in der Bibel um die möglichst genaue Erfassung der kulturellen und gesellschaftspolitischen Situation der damaligen Zeit bemüht sein. Schaut man sich die Ergebnisse der HKM an, wird schnell klar, dass sie weit über das hinaus geht, was oben beschrieben ist. Die historisch kritische Methode ist eine Methode, die davon ausgeht, dass die Bibel ein Buch ist wie jedes andere historisch literarische Werk auch, und das deshalb mit den allgemeingültigen Methoden der Wissenschaft erforscht werden darf und sollte. Die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung, die sich einer menschlich- naturalistischen Beurteilbarkeit entzieht, wird dabei völlig ausgeklammert. Schon an der Stelle wird deutlich, dass die HKM unter Voraussetzungen arbeitet, die dem Anspruch der Bibel, göttliche Offenbarung zu sein, niemals angemessen sein kann. Lange habe ich mich gefragt, warum man sich einer solchen Methode bedient, die dem Gegenstand der Untersuchung, dem Wort Gottes, wenig angemessen erscheint. Die Antwort kann man nur verstehen, wenn man die Denkvoraussetzungen der historisch kritischen Methode kennt. In einer Zeit, in der die Naturwissenschaften in Verbindung mit dem Rationalismus der Aufklärung zum allmächtigen Maßstab über alle Erklärungen für Naturphänomene aufstieg und damit zum Fortschrittsmotor schlechthin wurde, wollte man auch in der Theologie nicht abgehängt werden. Der Theologieprofessor Klaus Berger ist der Meinung: Die Theologie befürchtete in dieser Zeit, nicht mehr ernst genommen zu werden und hat deshalb die wissenschaftstheoretischen Überlegungen aus den Naturwissenschaften und der Aufklärungsphilosophie übernommen. Deshalb setzte man an den Anfang aller wissenschaftlichen Bemühungen auch in der Theologie den wissenschaftlichen Zweifel. Jeder Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen muss zunächst kritisch geprüft werden. Ist die bisherige Erklärung die richtige. Wieso ist das so? Was steckt dahinter? Man nimmt die Dinge nicht einfach so hin wie sie sind. Gleichzeitig sind die Anfänge der historisch-kritischen Methode auch gekennzeichnet von einer massiven Skepsis den bisherigen Dogmen der Kirche gegenüber. Man akzeptiert nicht mehr, dass etwas richtig ist, nur weil es von der Kirche behauptet wird. Was die Kirche sagt, muss zunächst mit meiner neu erworbenen kritischen Vernunft geprüft werden. Im Lager der Bibelkritik ist man sich bis heute einig, dass die HKM ein Kind der Aufklärung ist. Im Folgenden soll es nun um die wissenschaftlichen Denkvoraussetzungen der HKM gehen.
Um das Jahr 1900 hat ein damals schon bekannter und auch später einflussreicher Theologieprofessor, Ernst Troeltsch, die Denkvoraussetzungen oder den philosophischen Ausgangspunkt der sogenannten Historisch- Kritischen Methode in dankenswerter Klarheit beschrieben. Ernst Troeltsch nennt hier 3 Kriterien der Methode, an denen jeder Bibeltext wie jedes andere Literarische Werk auch beurteilt werden sollte. Diese Kriterien übertragen dabei das Wissenschaftsparadigma der klassischen vormodernen Physik auf die Geschichtswissenschaft. (Prof. Dr. theol. Rainer Mayer)
1.Kritik, 2.Analogie, 3.Korrelation
Zu 1.Kritik: Jeder Bibeltext sollte zunächst der menschlichen Kritik bzw. dem wissenschaftlichen Zweifel unterzogen werden. Er verliert dabei seine apriorische Absolutheit. Denn der Mensch kann nur Wahrscheinlichkeitsurteile fällen. Auf historischem Gebiet gibt es nur Wahrscheinlichkeitsurteile von sehr verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit, von hoher Wahrscheinlichkeit bis ganz geringe Wahrscheinlichkeit. Das heißt, der Bibeltext hat sich vor den Richterstuhl der menschlichen Vernunft zu verantworten. Der menschliche Verstand entscheidet, welcher Echtheitsgrad dem Bibeltext zukommt. Mit rationalen Kriterien muss dem jeweiligen Forschungsstand entsprechend festgestellt werden, was wahrscheinlich eher echt und was wahrscheinlich eher unecht ist. Das heißt: Letzte Wahrheit und Gewissheit gibt es nicht mehr. Allem, was vor der menschlichen Vernunft nicht standhält, kann widersprochen werden. Der Sachkritik der Bibel ist Tür und Tor geöffnet.
2.Analogie: Analogie bedeutet Entsprechung oder Gleichheit. Die Analogie ist der Schlüssel für die Kritik, für den Wahrscheinlichkeitsgrad, der einem Text zukommt. Ein Ereignis, das es heute nicht gibt, das kann es auch in der Vergangenheit nicht gegeben haben. Was heute nicht passiert, kann auch in der Vergangenheit nicht passiert sein. Oder anders ausgedrückt: Es kann nur Ereignisse in der Geschichte geben, die sich wiederholen können. Einmalige Ereignisse sind unwahrscheinlich oder ausgeschlossen. Hier wollte Troeltsch eine Vergleichsebene schaffen mit dem Experiment in den Naturwissenschaften. Das Experiment in den Naturwissenschaften ist die Analogie in der Literaturwissenschaft bzw. in der Theologie. Ein Beispiel: Dass Jesus Wanderprediger war, ist wahrscheinlich, weil es auch heute Wanderprediger gibt. Dass Jesus über das Wasser gelaufen ist, ist unwahrscheinlich, da es heute keinen Menschen gibt, der über das Wasser laufen kann. Um es klar zu sagen: Übernatürliche Wunder, wie sie in der Bibel beschrieben sind, sind ausgeschlossen. Man kann nach diesem Kriterium viele Teile des Neuen und Alten Testamentes streichen. Wie sehr dieses Kriterium die moderne liberale Theologie geprägt hat, kann man in vielen Kommentaren zum neuen und alten Testament sowie in vielen Vorträgen von Worthaus bis heute lesen bzw. hören.
3.Korrelation. (Beziehung) Das bedeutet die Wechselwirkungen aller Erscheinungen. Alle Ereignisse stehen in einer Kette von vorausgegangenen Ereignissen und nachfolgenden Ereignissen. Es gibt ein geschlossenes System von Ursache und Wirkung. Ein Ereignis kann immer durch ein vorausgegangenes Ereignis erklärt werden und dies wiederum nur durch ein weiteres vorausgegangenes Ereignis. Im Klartext heißt dass, ein übernatürliches Eingreifen Gottes gibt es nicht. Im Grunde ist das nichts anderes als eine wissenschaftliche Beschreibung des Deismus, wonach es Gott als Schöpfer zwar gibt, der aber nicht in die von ihm geschaffenen Naturgesetze eingreift.
Nach diesen 3 Prinzipien arbeitet die gesamte historisch kritische Methode, sagt Troeltsch. Nun hat Troeltsch diese Kriterien um das Jahr 1900 beschrieben. Gelten sie denn heute auch noch? Von manchem liberalen Theologen wird dies sicher verneint, doch wenn man sich viele aktuelle Publikationen, Kommentare und vor allem die Einleitungsfragen zur Exegese biblischer Texte anschaut, dann spürt man, wie diese Prinzipien eben unausgesprochen den Hintergrund der Argumentationsweise bis heute bilden. Man nennt diese wissenschaftliche Herangehensweise an biblische Texte auch den methodischen Atheismus. Man untersucht die Bibel, als ob es Gott nicht gäbe. Die historisch kritische Exegese geht in ihren Gedanken- und Untersuchungsgängen so vor, dass sie einmal rein methodisch das Eingreifen Gottes von außen nicht nur bei der Abfassung der Texte, sondern auch bei den Ereignissen, von denen berichtet wird, ausklammert. Man will damit nicht sagen, dass es Gott nicht gebe, es gehe zunächst nur rein um des methodischen Vorgehens wegen darum, das Einwirken Gottes auszuklammern. Jeder Anhaltspunkt für ein göttliches Eingreifen wird so erklärt, als läge allein menschliches Handeln vor. De facto bedeutet das, dass ich den eigentlichen Schlüssel zum Verständnis der Bibel wegwerfe und mich dann wundere, warum die Tür zum richtigen Verständnis nicht mehr aufgeht. Das ist ungefähr so, als ob ich die mathematische Aufgabe 2 + 3 lösen wollte und das Ergebnis 6 von vornerein ausschließen würde. Wenn sich dann doch Hinweise auf die Lösung 6 ergäben, dann müsste es sich um eine falsch gestellte Aufgabe handeln. Wenn ich ein göttliches Eingreifen ausschließe, dann brauche ich natürlich alternative Erklärungen für die Ereignisse in der Bibel und für die Entstehung der Texte. Das Motiv ist also nicht mehr Gottes Mitteilung (Offenbarung) an den Menschen, sondern bestimmte menschliche Absichten. Bei der Jungfrauengeburt wäre es zum Beispiel das Motiv, dem Menschen, Jesus, göttliche Eigenschaften zuzuschreiben, übrigens ein Motiv, das man allen Wunderberichten Jesu zuschreiben möchte. Interessant ist hier, dass die Wunder sowohl im Alten als auch im Neuen Testament tatsächlich als Beweise für die Gegenwart Gottes geschehen sind. Bei evangelikalen Christen werden sie als von Gott gewirkt angesehen, bei den liberalen Theologen sind sie ein fiktives Mittel, um die Gegenwart Gottes zu bezeugen, auf das Neue Testament bezogen, ein fiktives Mittel, um die Gegenwart Gottes in Jesus zu bezeugen. Ein anderes Beispiel, das hier genannt werden kann, ist die Datierung der Abfassung des Markusevangeliums, das man als das älteste Evangelium ansieht. Das Markus-Evangelium kann nicht vor 70 n. Christus geschrieben worden sein, weil dort die Zerstörung Jerusalems genau vorausgesagt wurde. Da es im historisch- kritischen Weltbild (Troeltsch) echte Prophetie nicht geben kann, muss das Markus-Evangelium also erst nach dem vorhergesagten Ereignis geschrieben worden sein ( Vaticinium ex eventu ). Eine Prophezeiung aus dem Ereignis heraus. Markus hätte also demnach eine echte Prophezeiung vorgetäuscht, um die nicht an Raum-Zeit gebundene Dimension der Göttlichkeit Jesu zu demonstrieren. Gleichzeitig bemüht man sich natürlich, zusätzliche Gründe zu finden, die eine Datierung nach 70 untermauern könnten. Hat man welche gefunden, stellt man die Sache so dar, dass nicht das ursprüngliche Vorurteil (Echte Prophetie kann es nicht geben) die Ablehnung der Echtheit eines Textes nahelegten, sondern die zusätzlichen Gründe. Ich werde auf die Datierung des angeblich ältesten Evangeliums in einem späteren Artikel noch genauer eingehen. Zusammenfasend lässt sich ausgehend von den Kriterien nach Troeltsch also sagen, dass die historisch kritische Methode von einem geschlossenen Weltbild ausgeht, in dem es keine göttlichen Eingriffe von außen geben kann. Sowohl die Entstehung als auch der Inhalt der biblischen Texte wird nicht im Horizont einer göttlichen Offenbarung erklärt, sondern ausschließlich im Rahmen einer innerweltlichen, rational- menschlichen Erfahrungswelt. Der Maßstab für die Beurteilung der Texte ist die menschliche Vernunft ganz im Sinne der Aufklärungs-Philosophie. Welche weitreichenden Konsequenzen diese Dominanz der Vernunft speziell in der Theologie hatte, werde ich später besprechen. Nun möchte ich noch zeigen, warum diese Denkmuster bis heute so attraktiv geblieben sind, obwohl dieses geschlossene Weltbild und damit auch das damit verbundene Wissenschaftsideal der Erklärbarkeit allen Lebens durch naturalistische Vorgänge unter Ausschluss einer göttlichen Intelligenz, veraltet ist. (Genetischer Code, Quantenmechanik, Relativitätstheorie).
Einen Teil der Antwort liefert uns Ernst Troeltsch selbst. Scheinbar hat er die Begründung für die Geltung der 3 Prinzipien nicht auf einen Beweis in der Naturwissenschaft oder in der Philosophie zurückgeführt. Er sagt nämlich: „Das ist eine metaphysische Annahme-also ein Glaube. Das setze ich einfach als Axiom, das ich nicht woanders noch irgendwie herleiten könnte: Das nehme ich einfach mal an, dass das so richtig ist, das glaube ich, darauf lasse ich mich einfach mal ein. Das ist wie in der Mathematik – und ebenso in jeder anderen Wissenschaft, ob bewusst oder unbewusst: Da gibt es bestimmte Axiome, bestimmte Grundannahmen, die ganz am Anfang stehen, die man nicht irgendwo anders hernehmen könnte, die man einfach einmal setzt und auf die man sich nun einlässt und davon ausgeht.“
Er hätte doch sagen können, er leitet das aus den Kenntnissen der damaligen Wissenschaft ab oder aus den philosophischen Erkenntnissen. Wenn seine Kriterien, keine weitere Begründung haben, warum ist er dann so von der Gültigkeit überzeugt. Und das halte ich für den springenden Punkt auch in der heutigen Diskussion. Keiner würde sich heute direkt auf diese Kriterien berufen, zumal ein geschlossenes Weltbild auch auf wissenschaftlichem Gebiet nicht mehr haltbar ist. Warum hat man dann die Denkstruktur, die diesen Prinzipien zugrunde liegt, beibehalten.
Troeltsch schreibt: „Niemand kann leugnen, dass sie (die HKM) überall wo sie angewendet wurde, überraschend erleuchtende Ergebnisse hervorgebracht hat, und dass überall das Vertrauen sich bewährt hat, noch nicht erleuchtete Partien würden durch sie sich aufklären lassen. Das ist ihr einziger aber auch ihr völlig ausreichender Beweis. Wer ihr den kleinen Finger gegeben hat, der muss ihr auch die ganze Hand geben. Daher scheint sie auch von einem echt orthodoxen Standpunkt aus einer Ähnlichkeit mit dem Teufel zu haben. Sie bedeutet ebenso wie die modernen Naturwissenschaften gegenüber dem Altertum und Mittelalter eine völlige Revolution unserer Denkweise.“
Troelsch beschreibt hier nichts anderes als das Erfolgserlebnis eines Naturwissenschaftlers, der eine neue Entdeckung macht oder eines Mathematikers, der plötzlich erkennt, dass seine Rechnung aufgeht. Attraktiv ist die historisch kritische Methode deshalb, weil sie unser modernes Denken befriedigt, weil sie Lösungen hervorbringt, die der menschlichen Vernunft eingängig sind. Ich muss selbst zugeben, dass die Erkenntnisse der historisch kritischen Theologie auf mich häufig sehr verlockend wirkten. Nicht selten habe ich auch in evangelikalen Kreisen gehört, dass man viel gelernt habe durch das Denken der liberalen Theologie, auch wenn man die radikalen Auswüchse ablehne. Gleichzeitig befriedigt sie unseren Drang nach Neuem. Eine Revolution der Denkweise macht sie spannend. Wir haben hier etwas in der Hand, mit dem wir die Religion, Menschen, Gesellschaften, beeinflussen können. Intellektuellen Einfluss auf das Denken von Menschen zu haben bedient unser menschliches Machtstreben, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Es ist ein fromm verbrämtes Mittel, unsere Autonomie voranzutreiben und uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bzw. Abhängigkeit von Gott zu lösen. Wissen ist Macht. Es besser zu wissen als es bisher geglaubt wurde, schafft ein Gefühl der Überlegenheit und Unabhängigkeit.
Klaus Berger im Interview mit IDEA: „Es ist die Lust des Zweitsemesters, der zu Weihnachten nach Hause kommt, uns seiner Verwandtschaft erklärt, was in der Bibel alles erfunden ist. Diese Macht und Anmaßung, andere Menschen in Verwirrung zu stürzen, bereitet Lust.“
Auch wenn man diese radikale Sicht nicht teilen möchte, so zeigt sie doch einen tendentiell wichtigen Grund für die Attraktivität und warum viele Theologen sich nicht distanzieren wollen: Man will die Kraft der Vernunft und die rationalen Errungenschaften der liberalen Theologie nicht aufgeben. Der allumfassende Grund, warum Menschen nicht an Gott glauben wollen, ist in Wirklichkeit sein Unwille, sich auf das unsichere Terrain einer abhängigen Beziehung einzulassen. Ich behaupte, dass jeder Mensch selbst an sich diesen Drang spürt, autonom und möglichst unabhängig zu bleiben. In den Ergebnissen der menschlichen Vernunft erfährt der moderne Exeget die Befriedigung seines Bedürfnisses. Nun möchte ich damit nicht sagen, dass die Vernunft grundsätzlich schlecht ist. Die Vernunft ist sicher eine Gabe Gottes. Übrigens ein Urteil, das von vielen Kirchenvätern und von der Bibel selbst geteilt wird. Der Unterschied zwischen einer Liberalen und biblischen Bewertung der Vernunft liegt nicht in der Eigenschaft: schlecht oder gut, sondern darin, ob die Vernunft über dem Wort Gottes oder unter dem Wort Gottes steht. Wo diese nach den Kriterien von Troeltsch und damit auch nach der historisch kritischen Theologie steht, dürfte klar sein.
Ein weiterer Grund, warum man an der HKM festhält, ist ihr eigener Anspruch der Wissenschaftlichkeit. In den Kommentaren von Troeltsch zur HKM wird deutlich, wie er sich in seinen Ausführungen immer auf andere Wissenschaften beruft. Man möchte in der Theologie genauso wissenschaftlich arbeiten wie die Naturwissenschaft. Auch in gegenwärtigen Kommentaren und Vorträgen (z.B. von Prof. Sigfried Zimmer, Ludwigsburg) erhebt man immer wieder den Anspruch, wissenschaftlich zu sein. Wer die Kenntnisse der HKM nicht anerkennt, gilt als unwissenschaftlich. Welcher Theologe will unwissenschaftlich sein. Man verkennt hier, dass viele angebliche wissenschaftliche Erkenntnisse nichts anderes sind als unbewiesene Hypothesen. Der theologische Laie kann dies nicht ohne weiteres erkennen. Den wissenschaftlich arbeitenden Theologen ist vermutlich allen klar, dass es auf dem Gebiet der historischen Wissenschaften keine absoluten Beweise geben kann. Kommuniziert wird es allerdings, als wären es absolute wissenschaftliche Tatsachen. Wissenschaftlich in der Theologie bedeutet: Es handelt sich um Theorien, die für unseren Verstand plausibel klingen und einen breiten Konsens gefunden haben. Durch den häufig kolportierten Anspruch der Wissenschaftlichkeit gerät sowohl der Laie als auch der Theologe in einen Druck, die Ergebnisse zu akzeptieren. Der Leiter des philosophischen Institutes in Lichtenstein, Prof.Daniel von Wachter spricht hier von intellektueller Versuchung. Wer nicht auf dem Boden der HKA arbeitet, begibt sich ins akademische Abseits und wird früher oder später vom Platz gestellt. Das ist selbstverständlich auch der Grund, warum es heute kaum noch Theologieprofessoren gibt, die die HKM ablehnen.
Ein weiter Faktor, den Troeltsch mit seinem Statement zur HKM erwähnt, ist die Macht der HKB, sich auszudehnen und einen nicht mehr loszulassen. Wenn man ihr den kleinen Finger bietet, nimmt sie bald die ganze Hand ein. Das ist auch eine gute Erklärung dafür, warum die historisch kritische Theologie, die ursprünglich mal klein angefangen hat bei den Schöpfungsberichten sich im Laufe ihrer Geschichte ausgebreitet hat auf praktische alle Teile der Bibel. Es ist „theo-logisch“ äußerst schwer, nur die Schöpfung oder die Urgeschichte historisch kritisch wegzudiskutieren, und beispielweise die Weihnachtsgeschichte historisch stehen zu lassen. Man gerät in einen immensen intellektuellen Konflikt, wenn man dies versucht. Der Begründungsstrang für die Nicht-Historizität ist in beiden Fällen der gleiche. Beim Schöpfungsbericht oder der Urgeschichte fühlt man sich aufgrund des vermeintlich naturwissenschaftlichen Beweises gezwungen, dies zu tun. Bei der Weihnachtsgeschichte gibt es keine handfesten Beweise, dass sie nicht geschehen ist. Einem gebildeten Gegner beider Geschichten kann ich nicht einleuchtend erklären, warum die Urgeschichte nur symbolische Bedeutung haben und die Weihnachtsgeschichte tatsächlich geschehen sein soll, obwohl sie innerbiblisch den gleichen Grad der Historizität beanspruchen.
Die Bibelkritik zeigt sich also nicht nur an den vielleicht gar extremen Ergebnissen, sondern schon im Ansatz. Bibelkritik im Sinne der historisch kritischen Theologie ist der Ersatz der Offenbarung Gottes durch ein Zeugnis religiöser menschlicher Erfahrungen und Anschauungen, deren göttliche Substanz ich mithilfe der Vernunft beurteilen muss. Die entscheidende Frage ist doch: Stehe ich mit meinem Verstand über oder unter dem Wort Gottes? Beurteile ich ihre Wahrscheinlichkeit oder lasse ich mich von ihr beurteilen. Lasse ich biblische Aussagen nur gelten, wenn sie meinem Verstand einleuchten und ich sie innerweltlich erklären kann? Oder rechne ich mit den Möglichkeiten Gottes, die innerweltliche Möglichkeiten übersteigen? Vertraue ich der Bibel als Gottes Offenbarung, oder vertraue ich auf Hypothesen. Wo man der Bibelkritik den kleinen Finger gibt, ist schon die ganze Einstellung zur Bibel und damit mein Gottes- und Jesusbild verändert.
Damit eng verbunden ist das Argument, dass unser heutiges Denken ein ganz anderes ist als damals. Das stimmt natürlich nur teilweise. Man vergisst dabei manchmal, dass die Menschen damals auch Menschen waren wie wir heute. Die natürlichen psychologischen Kräfte wie das Bedürfnis nach Liebe, Anerkennung, Respekt, Wahrheit und Gerechtigkeit, das menschliche Streben nach Geld und Macht Autonomie und Unabhängigkeit sowie der Wunsch nach Befreiung von existentiell bedrohlichen Kräften wie Angst Krankheit und Tod schon die gleichen waren wie heute. Ein Mensch der Antike konnte auch schon unterscheiden zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Fantasie und Wirklichkeit, zwischen Realität und Fiktion. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich damals deshalb keine erfundenen Geschichten erzählt hat, weil man die Gefahr einer Verwechslung mit der Wirklichkeit vermeiden wollte. Wir erzählen unseren Kindern bis heute erfundene Geschichten, ohne sie vorher über den Wirklichkeitsgrad aufzuklären und sind uns dabei sicher, dass sie mit dem Älterwerden deren Wirklichkeitsgrad selbst erfassen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Menschen zu Zeiten des Alten- und Neuen Testamentes wirkliches Geschehen und Fiktion nicht unterscheiden wollten.
Wir haben es also in der historisch kritischen Theologie nicht nur mit einem historisch-wissenschaftlichen Methodenapparat zu tun, der offen wäre für alle Seiten. Die historisch kritische Theologie geht von ganz bestimmten Denkvoraussetzungen aus, bei denen eine Offenbarung von außen von vornherein ausgeschlossen ist und die nur eine von der Vernunft des Menschen abgeleitete Ursache als Erklärung für bestimmte biblische Phänomene zulässt. Ihre Ergebnisse sind deshalb vielfach so eingängig und einleuchtend, weil die Befriedigung unseres Verstandes ein wichtiges Kriterium für ihre Gültigkeit und damit auch der bestimmende Faktor für die Ergebnisse selbst ist. Es ist ungefähr so, wie wenn ich die Regeln eines Fußballspieles erst nach dem Spiel zu meinen Gunsten festlege.