Sackgassen der liberalen Theologie

Die Bibelkritik, die sich selbst als historisch-kritische Methode, als historische Kritik oder als historisch kritische Theologie bezeichnet, beherrscht heute nicht nur die gesamte abendländische und katholische Theologie, sondern will auch die angemessenste und aussichtsreichste Methode sein, um die Bibel zu verstehen.  Dabei erhebt sie mit Berufung auf die Naturwissenschaften den Alleinvertretungsanspruch für wissenschaftliche Theologie. Im Folgenden wollen wir uns nun mit dem Begriff der Kritik befassen und wollen ihn dem biblischen Anspruch, das geoffenbarte Wort Gottes zu sein, gegenüberstellen. Wir wollen dabei von der Offenbarung selbst ausgehen.

Das Recht, die historisch-kritische Methode anzuwenden, ist heute… in der Theologie unbestritten“, schreibt Richter 1972. Dazu ist zu erklären, dass hier Kritik nicht nur im Sinne des Unterscheidens (griech.= krinein), sondern im Sinne von Sachkritik gemeint ist. Manchmal beruft man sich bei der Auseinandersetzung mit der HKM auf die ursprüngliche Wortbedeutung (=Unterscheiden), um die Harmlosigkeit der Kritik zu betonen. Dass es hier aber eindeutig um Sachkritik geht, dürfte nicht nur in allen bisherigen Ausführungen deutliche geworden sein, sondern lässt sich an den Ergebnissen unmissverständlich erkennen. Die historische Kritik ist immer zugleich Sachkritik. Was bedeutet das nun? Im innerweltlichen Bereich ist die Kritik notwendig, um korrigierend einzugreifen, um falsche Wege aufzuzeigen. Das unterscheidende Wahrnehmen ist notwendig, um vernünftige Entscheidungen treffen zu können. Insofern könnte man die Fähigkeit zur Kritik als ein Geschenk Gottes bezeichnen. Kritik erfolgt dabei immer von einem höheren Standpunkt oder von einem Vorwissen aus. Wenn ich den anderen ehrlich kritisiere, dann meine ich, es besser zu wissen.  Im Zwischenmenschlichen Bereich ist das ein selbstverständlicher Vorgang. Diesen Vorgang aber nun auf die Offenbarung Gottes anzuwenden, wäre pervers. Wenn Gott hinter dem Wort Gottes steht, wenn die Bibel tatsächlich die Anrede Gottes an den Menschen ist, dann ist er derjenige, der mich kritisiert, dann muss ich mich von ihm beurteilen lassen, nicht umgekehrt. (Röm. 2,1ff). In Hebräer 4,12: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als ein zweischneidiges Schwert und dringt durch, bis es schneidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ Gottes Wort zu kritisieren würde bedeuten, dass ich mich auf einen höheren Standpunkt stelle, dass ich meine, es besser zu wissen. G. Maier sagt dazu: „Zwar kann die Offenbarung als solche abgelehnt oder bejaht werden. Sie kann aber weder bestätigt noch kritisiert werden. Denn der Mensch besitzt weder den Standpunkt noch das Wissen noch die Macht, um die Berechtigung der Offenbarung auf seine (menschliche) Bestätigung zu gründen oder von seinem Urteil abhängig zu machen.“ Nur als der von Gott Kritisierte kann er in dem Raum, den ihm Gottes Kritik zumisst, kritisch tätig werden.“ Das Wort Gottes zu kritisieren, würde einem Angeklagten gleichkommen, der über sein Urteil und seine Strafe selbst verfügt. An der Stelle würde ein liberaler Theologe natürlich einwenden, man wolle ja nicht Gottes Wort selbst kritisieren, sondern nur das Menschenwort, das Gottes Wort verdeckt. Man verschiebt das Problem hier jedoch nur nach hinten. Die Sackgasse wird nur etwas länger. Die Entscheidung, was nun Gottes Offenbarung ist und was nicht, kann ich auf der innerweltlichen Ebene gar nicht treffen, weil mir als Mensch das Vorwissen bzw. der erhöhte Standpunkt fehlt, von dem aus ich das beurteilen könnte. G. Maier sagt dazu, dass   Wissen und Gewissheit über die Offenbarung erst in der Begegnung mit Gott, also mit der Offenbarung Gottes selbst und nicht losgelöst von ihr entsteht. Um das Bild eines Angeklagten noch mal zu bemühen: Der Angeklagte würde hier selbst entscheiden, welcher Teil des Gesetzes nun auf das Urteil anzuwenden ist und welcher nicht. Oder noch besser: „Der Angeklagte schafft sich selbst ein Gesetzt, nach dem der Richter urteilen soll. Hier zeigt sich also, dass Kritik im Sinne der historischen Kritik ein völlig unangemessenes Mittel ist, die Bibel zu untersuchen. Nochmal G. Maier: „Die historische Sachkritik ist also eine contradictio in se!“ (= ein Widerspruch in sich).

Dass man sich mit dieser Schlussfolgerung nicht zufriedengeben kann, dürfte klar sein. In der Diskussion um die Bibelkritik berufen sich liberale Theologen gerne auf bibelinterne Hinweise auf Kritik. Dazu Stuhlmacher: „Was in der Heiligen Schrift aus Altem und Neuem Testament steht, ist nicht alles Evangelium. Das heißt nichts anderes, als dass es schon in der Bibel falsche und wahre Verkündigung gebe. Deshalb kommt Stuhlmacher zu dem Schluss, wir seien auch innerhalb der Schrift „zur Kritik verpflichtet“. Das impliziert, dass uns die Schrift selbst Kriterien an die Hand gebe, nach denen wir unterscheiden können sollen, was wahre und falsche Verkündigung sei. Diese Kriterien gibt es aber nicht. Oder anders ausgedrückt: Wenn es solche Kriterien gäbe, dann würde uns die biblische Offenbarung selbst in einen unlösbaren Konflikt bringen, denn „ein den Menschen veränderndes Hören geschieht ja nur dort, wo man das ganze biblische Wort in wirklicher Offenheit hört, so Gerhard Maier. Weiter Gerhard Maier: “Aber jede Sachkritik muss von einem Vor-Urteil ausgehen, das sie nicht loslassen kann. Die nötige Offenheit ist daher prinzipiell nicht mehr gegeben. Würde jedes Vor-Urteil abgelegt, dann könnte es nur dort zur Kritik kommen, wo uns die Offenbarung dazu anleitet. Das geschieht aber nur dem Vor-Urteil des Auslegers gegenüber- und gerade nicht innerhalb der Schrift. Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen (was ja der Begriff der Sachkritik impliziert), gibt es nirgends. Besser könnte man es nicht formulieren. Sachkritik der göttlichen Offenbarung gegenüber bleibt immer ein Widerspruch in sich. Nach den Selbstaussagen der Offenbarung richtet sich ihr Wort an unsere Offenheit, unseren Gehorsam. Die historische Kritik verweigert sich dieser Intention. Statt offen zu sein, verschanzt sie sich hinter die Grenzfestungen ihres eigenen Urteils, Sie weiß schon vorher, was richtig und falsch ist und lässt sich das nicht mehr sagen von der Autorität der Offenbarung. Statt offen zu sein für die Wegweisungen und Korrekturen Gottes, presst sie die Offenbarung durch den Fleischwolf des Vorwissens bzw. des Vor-Urteils der historisch-kritischen Theologie und macht sich so resistent gegen die Wegweisung Gottes.  

Es gibt allerdings noch eine weitere Dimension im Verhältnis von Kritik zur Offenbarung, die allerdings sehr eng mit dem Kriterium der Kritik verbunden ist. Seit Descartes gilt der wissenschaftliche Zweifel als das initiale und umfassende Mittel, neue Erkenntnisse zu gewinnen oder voranzutreiben. Dieses Mittel hat man später in der Aufklärung auch in der historisch-kritischen Methode zum Ausgangspunkt für wissenschaftliches Arbeiten gemacht. „Bis heute lernt jeder Theologiestudent, der ins Proseminar kommt, dass Ausgangspunkt der neutestamentlichen Forschung ganz allgemein der wissenschaftliche Zweifel sei. ( G. Maier in: Biblische Hermeneutik S. 244 ) Dieser Zweifel wird in vielen Fällen konstitutiv für seine theologische und geistliche Existenz“. „Eta Linnemann (Theologieprofessorin) sagt, dass der Ausgangspunkt der historisch-kritischen Theologie ist: So wie es dasteht, kann es nicht gewesen sein. Wer also eine Bibelstelle einfach als Wort Gottes annimmt, läuft Gefahr, dass er die Bibel an der Stelle falsch versteht. Vom Standpunkt eines Laien betrachtet, bedeutet es: Ich kann mich nicht darauf verlassen, was dasteht, oder: Man darf nicht lesen was dasteht. Das ist grotesk. Nachdem Martin Luther durch die Bibel- Übersetzung jedem Deutschen den Zugang zur Offenbarung eröffnet hat und damit das allgemeine Priestertum aller Gläubigen verband, nimmt ihn heute die liberale Theologie wieder weg, indem sie die Auslegung der Bibel an den Schlüssel der historischen Kritik, deren Ausgangspunkt der generelle Zweifel ist, kettet. Nochmal Karl Lehmann: „Der prinzipielle Zweifel, die Berichte der Schrift könnten möglicherweise doch das wirkliche Verstehen verdecken, gelangt in der Aufklärungszeit als fundamentale Voraussetzung historischer Bibelkritik zur Herrschaft.“ Nicht mehr der Zweifel, sondern Zuversicht und Vertrauen bedurften jetzt einer Erklärung. Ebenso wie bei der Kritik wollen wir nun fragen, ob dies aus der Sicht der Offenbarung gerechtfertigt ist. Hier sollten wir den Charakter der Offenbarung uns nochmal vergegenwärtigen. Die Offenbarung ist nicht eine seelenlose Beschreibung der Zusammenhänge der Welt, sondern sie geht von einer Person aus, die in eine Beziehung mit uns Menschen treten will. Sie wirbt dabei um eine Antwort, sie wirbt um Vertrauen. Gerhard Maier sagt dazu: „Dabei ist es wesentlich, auf die Grundbewegung der Offenbarung zu achten. In ihr sucht Gott das Vertrauen der Menschen“ Egal, ob im Alten Testament oder im Neuen Testament: Die Bibel ist durchzogen von den Vertrauensbemühungen Gottes, die schließlich in Jesus zum lange vorbereiteten Höhepunkt kommt. Gottes Handeln in der Geschichte zielt auf eine vertrauensvolle Beziehung des Volkes Israel und des einzelnen Gläubigen zum lebendigen Gott. Diese Absicht Gottes steht nun in einem krassen Gegensatz zum Zweifel. Gottes Vertrauensbemühung mit einem generellen Zweifel zu begegnen, ist völlig unangemessen. Das Korrelat der Offenbarung ist nicht Zweifel oder Skepsis, sondern Vertrauen. Wenn ich der Liebeserklärung Gottes in Form seines geoffenbarten Heilsplanes einschließlich der Menschwerdung Jesu den Zweifel gegenüberstelle, dann werde ich als irrender Mensch Gottes Absicht verfehlen. Das würde einem Wüstenwanderer entsprechen, der eine Oase am Horizont fälschlicherweise für eine Fata Morgana hält und schließlich an Flüssigkeitsmangel stirbt. Nicht wer vertraut, läuft Gefahr, an der Wirklichkeit der Absichten Gottes vorbeizuschlittern, sondern wer zweifelt und dies in Frage stellt. Spr.23,26: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen.“ Dazu nochmal Gerhard Maier: „Eine Begegnung mit der Offenbarung, die Skepsis und Zweifel zum Prinzip macht, bedeutet ein brüskes Nein zu ihrer Vertrauensbemühung. Man kann den Ausleger psychologisch und existentiell in keine schroffere Gegenposition versetzen, als indem man ihm den Zweifel vorschreibt. Darüber hinaus ist dieser Zweifel nicht auf einen schmalen Raum der theologischen Studierstube beschränkt, sondern zum wissenschaftlichen Ausweis geworden.“ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Prinzip des Misstrauens gegenüber biblischen Texten dem Gegenstand der Offenbarung niemals gerecht wird. Im Gegenteil, ich stelle damit die Vertrauensbemühung Gottes auf den Kopf. Es verhindert geradezu eine Einwilligung in diese Bemühung. Damit schlage ich das wichtigste Angebot dieser Offenbarung aus. Eine Beziehung kann nur entstehen und gedeihen, wenn sie nicht vom wachsenden Unkraut des Zweifels und der Skepsis erstickt wird. Die einzige Möglichkeit, die Offenbarung Gottes zu prüfen ist, sich darauf einzulassen. Nur so kann ich erfahren, ob sie echt ist. Als sündiger Mensch bin ich nicht in der Lage, dies vorher zu prüfen. Joh.7,17.Wenn jemand will des Willen tun, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei oder ob ich von mir selbst rede.  Dies ist übrigens ein biblisches Grundprinzip, das die Interaktion von Gott und Mensch an vielen Stellen charakterisiert. Am Anfang steht fast immer eine Verheißung Gottes, auf die sich der Mensch ohne verstandesmäßige Sicherheit einlässt. Im Vertrauen auf Gottes Zusage erfährt er dann die Erfüllung dieser Zusage. An vielen Stellen der Bibel sprechen rationale Ausgangsbedingungen sogar völlig gegen das Eintreten einer Zusage. Das Wunder vollzieht sich aber gerade und ganz besonders, wenn der Abstand von menschlicher Wahrscheinlichkeit zur Stufe des Vertrauens besonders groß ist. Ein genereller Zweifel verbaut mir die Möglichkeit, dieses Grundprinzip zu erfahren, weil die menschliche Seite in diesem Vorgang eben gerade im Vertrauen und nicht im Zweifel besteht. Dazu nochmal Gerhard Maier: „Wer ohne solchen tätigen Glauben zuvor erkennen will, muss sich notwendig verirren.

In der historisch kritischen Theologie wird die Bibel nicht mehr als Wort Gottes angesehen. Die Bibel als das geoffenbarte Wort Gottes im Sinne einer Selbstmitteilung seines Wesens und Willens, wird aufgrund weltanschaulicher Prämissen bzw. aufgrund eines wunderkritischen Paradigmas abgelehnt. Eine göttliche Offenbarung als übernatürlicher Vorgang und als Übermittlung seiner Gedanken in das diesseitige Raum-Zeitkontinuum ist in der historisch-kritischen Gedankenwelt nicht denkbar. Die Bibel wird also zum reinen Menschen-Wort.

Georg Kümmel (1905-1995) Prof. für Neues Testament: „Die HKM geht davon aus, dass die Bibel ein von Menschen geschriebenes Buch sei, das wie jedes andere Werk menschlichen Geistes nur aus der Zeit seiner Entstehung und darum nur mit den Methoden der Geisteswissenschaft sachgemäß verständlich gemacht werden könne“

Landesbischof Ralf Meiser: „Dazu so paradox es klingt, muss ich zuerst damit ernst machen, dass die Bibel ein ganz normales Stück Literatur ist. Dass das immer wieder gesagt werden muss, mag überraschen. “Aber faktisch wird auf den Kanzeln häufig vergessen, was im exegetischen Proseminar einmal gelernt wurde. Bei mancher Predigt bekommt man den Eindruck, dass das, was gesagt wird, deshalb relevant ist, weil es in der Bibel steht.!“

Wenn man das Wesen der HKM genau betrachtet, dann kann es auch gar nicht anders sein. In den vorigen Abschnitten haben wir gesehen, dass Kritik und Zweifel niemals angemessene Methoden sein können, Gottes Offenbarung gegenüberzutreten. Im Grunde ist die Feststellung, dass die Bibel reines Menschenwort ist, eine Voraussetzung für die historische Kritik und nicht das Ergebnis, wie häufig behauptet wird. Die historisch-kritische Methode kann von ihrem Wesen her keine göttliche Offenbarung voraussetzen. Sie muss quasi voraussetzen, dass die Bibel reines Menschenwort ist, sonst verliert sie schon von vornherein ihre Berechtigung.          

Wenn ich aber davon ausgehe, wie es oben ausgesagt wird, dass die Bibel ein ganz normales Buch ist wie jedes andere auch, dann stellt sich jetzt die Frage, warum man dann ausgerechnet die Bibel zur Glaubensgrundlage macht. Warum nehme ich nicht die Schriften der griechischen Philosophen. Oder was sollte mich dann davon abhalten, die Bibel zu erweitern mit den Texten von Martin Luther oder Rudolf Bultmann. Schon an dieser Frage wird deutlich, dass die Aussagen von Kümmel und Meiser wohl nicht so gemeint waren wie sie dastehen, oder vielleicht doch? Manch ein liberaler Theologe hat aufgrund dieses Zwiespaltes das Handtuch geworfen und den christlichen Glauben aufgegeben. Gerd Lüdemann als bekannter Theologieprofessor zum Beispiel wirft den liberalen Theologen Schizophrenie vor, wenn sie einerseits die meisten Texte über Jesus für unecht erklären und trotzdem weiter am christlichen Glauben festhalten. Er hat sich vom christlichen Glauben distanziert. Auch Marx und Engels sowie Stalin haben Theologie studiert und haben sich dem Atheismus zugewandt. Wir sollten uns erinnern, dass die Wurzeln des Atheismus und die der historisch-kritischen Theologie die gleichen sind. Wie viele Theologiestudenten haben das Studium abgebrochen, weil sie diesen Zwiespalt nicht mehr aushalten konnten. Welche Auswege gibt es nun aus diesem Dilemma? Ein Ausweg für manche Theologen besteht darin, zu sagen: Die Bibel ist nicht als Ganzes Gottes Wort, sie enthält aber Gottes Wort. Einen Kanon im Kanon. Dieses Schlagwort stammt von Semler. Im Religionsunterricht hat man mir diese Sichtweise präsentiert. Diese Haltung erfordert aber ein Kriterium, nach dem wir Gottes Wort von Menschenwort unterscheiden können.  Man suchte nach innerbiblischen Kriterien. Das Neue Testament wurde gegen das Alte Testament ausgespielt. Die paulinische Theologie ist nicht identisch mit der von Jesus. Man sah einen Gegensatz zwischen Petrus und Paulus. Man benutzte das Bild von der Schale und dem Kern.  Das am meisten benutzte Kriterium war die Mitte der Schrift: „Was Christum treibet.“ Man benutzte Jesus gegen die Schrift, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass man ein einheitliches Bild von Jesus auch schon längst abgebaut hatte. Man glaubte, diesen Konflikt auflösen zu können, indem man sagte: Wir glauben nicht an die Bibel, sondern wir glauben an Jesus. Welcher Jesus ist dann gemeint? Der historische Jesus, den man bis heute nicht identifizieren konnte, oder der feministische Jesus? Der Jesus, der von Hölle und Verdammnis gesprochen hat oder der Friedens-Jesus. Auch die Trennung zwischen Geschichte und Glauben ist nur eine Pseudolösung, weil viele theologische Wahrheiten ausgerechnet auf historischen Tatsachen beruhen.  Ich glaube, sagen zu können, dass die Geschichte der liberalen Theologie die Geschichte der Suche nach dem eigentlichen verbindlichen Gotteswort ist. Die Ansätze für diesen Schlüssel, für dieses Kriterium, sind so vielfältig wie die Zahl der Theologen selbst, die sich um dieses Thema bemüht haben. Hierzu wieder Gerhard Maier: „Welche Aussagen im Laufe der Geschichte von der historischen Kritik abgelehnt wurden, unterlag jeweils zeitbedingten oder persönlichen Schwankungen. Die zahllosen Schwankungen, denen innerhalb der letzten 300 Jahre die Sachkritik unterworfen war, widerlegen eindrucksvoll die Behauptung, die Schrift ermögliche aus sich selbst heraus eine solche Sachkritik.“ „Dennoch hat man gerade in den letzten Jahren die Notwendigkeit der Sachkritik auffallend betont.“ Dazu muss gesagt werden: Wenn Gerhard Maier von Sachkritik spricht, dann meint er damit die Unterscheidung von echten und unechten Bibelworten, also von Gottesworten und Menschenworten.   Bis heute sind uns also die Vertreter dieser Sichtweise eine Antwort schuldig geblieben. Ist nicht der Dschungel der Ansätze schon ein ausreichender Grund, die Suche nach dem Schlüssel für die Wahrheit innerhalb der Bibel als gescheitert anzusehen. Darüber hinaus sollte an der Stelle nochmal deutlich gemacht werden, dass dieser Ansatz eigentlich den oben genannten Denkvoraussetzungen der HKM selbst widerspricht. Eine Offenbarung im eigentlichen Sinn kann es im Denkrahmen der HKM nicht geben. Genauso wenig kann es sie dann nur an bestimmten Stellen in der Bibel geben. Ein wunderkritisches Paradigma widerspricht der Absicht, nach dem Kanon im Kanon zu suchen, weil sie das, was sie sucht, schon von vorherein ausgeschlossen hat.

Vernunft-Glauben.

Wir kommen also zurück auf unsere Frage, inwiefern ist dann die Bibel noch Gottes Wort? Oder anders ausgedrückt, warum bleibt dann die Bibel weiterhin die Grundlage unseres Glaubens? Hier kommt die Vernunft ins Spiel. Zweifellos spielt die menschliche Vernunft in der liberalen Theologie eine alles bestimmende Rolle. Zweifel und Kritik haben als Ausgangspunkt die Vernunft. Schon bei den Kriterien von Ernst Troeltsch kommt die Vernunft als Maßstab zum Tragen. Wir erinnern uns, dass wir über die Echtheit von historischen Texten nur Wahrscheinlichkeitsurteile fällen können. Und der Wahrscheinlichkeitsgrad wird vom Kriterium der Analogie bestimmt, wie es Troeltsch formuliert.  Es besteht eine allgemeine Einigkeit darüber, dass die HKT ein Kind der Aufklärung ist. Immanuel Kant war der Meinung, dass es keine Möglichkeit gibt, verlässliche Informationen über Gott zu gewinnen. Nach Kant ist alles, was in den Verstand eingeht, bereits durch die Kategorien des Verstandes geformt. Deshalb schließt Kant auch die Möglichkeit einer objektiven Gotteserkenntnis aus. Es besteht für Kant ein garstiger Graben zwischen göttlicher und menschlicher Wirklichkeit. Oft wird ihm dabei zugutegehalten, dass er damit den Glauben an Gott nicht aufgehoben hat.  Auch wenn Kant kein Atheist im strengen Sinne war, so kann man ihn als Agnostiker bezeichnen: Man kann nichts sicher über Gott wissen. So ist im Denkrahmen von Kants Philosophie auch eine Offenbarung im klassischen Sinne nicht möglich. In der „Kritik der praktischen Vernunft“ geht Kant dann noch einen Schritt weiter. Es gibt zwar kein objektives Kriterium für die Existenz Gottes, wohl aber eine praktische Forderung: Obwohl es nicht möglich ist, zu denken, dass Gott existiert, muss man leben, als ob er existiere. Kant erkennt eine subjektive Gotteserkenntnis an. Eta Linnemann interpretiert Kant: Der Mensch sollte nach Gott trachten-aber nach Gott um des Menschen willen. Er ist dem Menschen erwünscht, da er durch ihn die moralische Gewissheit erfährt und leben kann, als ob es Gott gäbe. Wo sind nun genau die Brücken zur HKT, die bis heute den Hintergrund vieler Gedanken in der HKT bilden?

In der Aufklärungsphilosophie ist eine Offenbarung im klassischen Sinne nicht denkbar. Ein Erkenntnisgewinn im Sinne einer Mitteilung Gottes an den Menschen als objektives Kriterium ist deshalb nicht denkbar, weil sie schon von vorherein vom Verstand geformt ist, und deshalb nicht als objektiv gelten kann. Eine Offenbarung kann also bestenfalls als subjektiver innerweltlicher Prozess verstanden werden und ist deshalb auch jederzeit geöffnet für Kritik. Da die Erkenntnis über Gott nur mit Vernunft-Kategorien erfasst werden kann, muss sie auch mit Vernunft-Kategorien kritisch geprüft werden. Daraus bezieht die HKT ihre Legitimation zur Bibelkritik und die Ablehnung einer Inspirationslehre. Die Offenbarungsdimension der Bibel wird zur Vernunftdimension. Die Vernunft entscheidet, was im Sinne der Philosophie Kants als Gottes Wort gelten kann und was nicht. Sie bekommt die Position eines göttlichen Maßstabs. Das, was man früher als das von Gott übermittelte Wissen an die Menschheit verstanden hat, wird jetzt nur noch zu Glaubenszeugnissen und Lebenserfahrungen der damaligen Menschen. Allerdings wäre es hier ein gravierendes Missverständnis, zu meinen, die Glaubenserfahrungen der damaligen Menschen wäre für uns heute völlig wertlos. Nein, sie sind auch in der liberalen Theologie von außerordentlicher Wichtigkeit. Und jetzt kommt der springende Punkt, den man erkennen muss, wenn man viele Äußerungen in der historisch-kritischen Theologie verstehen will. Die Glaubenserfahrungen sind für uns heute insofern wichtig, als sie sich mit den modernen Vernunftwahrheiten decken und sie sind deshalb relevant, weil wir ausgehend von diesen Erfahrungen unsere modernen Glaubens-Vorstellungen weiterentwickeln können. Alles was nicht mit unseren modernen Vernunftwahrheiten kompatibel ist, wird eliminiert bzw. kann nicht mehr als Gottes Wort angesehen werden. Das heißt, das Entscheidende ist, dass die biblischen Aussagen vor meinem Denken bestehen können. In einer modernen Begrifflichkeit klingt das dann so: Stuhlmacher: „Die Textüberlieferung gibt uns ihr Wahrheitsverständnis zu bedenken, und der Interpret geht mit geschärftem Wahrheitsgewissen auf dieses Wahrheitszeugnis ein. Er kann und braucht es nur zu übernehmen, wenn es ihn überzeugt.“ Auch in einem Kommentar von Ralf Meister kommt die subjektive Vernunftabhängigkeit biblischer Aussagen zum Ausdruck: „In diesem Sinne kann die Bibel nur noch dann als Autorität anerkannt werden, wenn sie in der individuellen Lebensführung als hilfreich, sinn- und lebenserschließend erfahren wird.“ Die Autorität steht hier für Gottes Wort. Man könnte hier auch sagen, Gottes Wort ist das, was der Mensch mit Hilfe seiner praktischen Vernunft als Gottes Wort anerkennt. Kant selbst war der Meinung, dass der Glaube und zu leben, als ob es einen Gott gäbe, praktisch für das menschliche Zusammenleben sei. Das ist die zweite große Brücke zwischen Aufklärung und Theologie. Der Glaube ist die Hilfe zur Nächstenliebe und zu einem ethisch verantwortlichen Leben, das sich nicht mehr an der Autorität der biblischen Dogmen orientiert, sondern an der menschlichen Vernunft. Gottes Wort ist also das, was ich mit meiner subjektiven menschlichen Wahrnehmung erfassen kann und was mir im psychosozialen Bereich hilfreich erscheint.  Man holt so über die Hintertür das wieder herein, was man zur Vordertür rausgeworfen hat, nämlich das Wort Gottes, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Insofern schließt sich der Kreis. Der Kern des Evangeliums ist nicht der Tod und die Auferstehung Jesu, sondern ein soziales Evangelium. Ein soziales Evangelium braucht nicht die Basis von tatsächlicher Geschichte, wohl aber ein Vorbild in Jesus. Die wertvollen, aber nicht-historischen Geschichten in der Bibel sind nur der Kristallisationspunkt, an dem sich ein neues, mit unserer Welt kompatibles Evangelium entwickeln kann. Wenn liberale Theologie ein Kind der Aufklärung ist, dann sind Humanismus und Relativismus bzw. Unbestimmtheit der Wahrheit, wie sie heute in der postmodernen Gesellschaft prägend sind, die Geschwister der Kant´schen Vernunftphilosophie. Deshalb ist die radikale Bibelkritik, wie wir sie bei Andreas Lindemann sehen, nichts anderes als christlich verbrämter Humanismus. Alle diese Zusammenhänge folgen aus der Aufklärungsphilosophie und erklären auch gleichzeitig deren Doppelbödigkeit, die es Laien so schwer macht, sie zu erkennen.  Dazu Helge Stadelmann: Da hat man fast alle geschichtlichen Aussagen des AT ihres historischen Wirklichkeitsbezugs beraubt, aber doch bekennt man sich zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Da hat man die jungfräuliche Geburt von Jesus in Bethlehem bestritten, ihm fast alle in den Evangelien berichteten Worte und Taten abgesprochen, aber doch beteuert man die zentrale Rolle Christi für den eigenen Glauben. Da hat man die dem NT so wesentliche leibliche Auferstehung Jesu wegkritisiert (Motto: Die Krippe war leer, das Grab ist voll), aber zugleich spricht man, ohne mit der Wimper zu zucken, mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis von Jesus, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel, er sitz zur Rechten Gottes des Vaters…“ Die Historizität der Inhalte des apostolischen Glaubensbekenntnisses ist zweitrangig. Sie ist nur die Trägerlösung. Die eigentliche wirksame Substanz ist die Moral, das Liebesgebot, indem das ganze Evangelium zusammengefasst ist. Wir glauben demnach nicht mehr vorwiegend an Jesus, sondern mit Jesus, um hier einen populären modernen Sprachgebrauch aufzunehmen. Deshalb konnte Lessing schon im 18.Jahrhundert sagen: „Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten Dinge nur früher.“ Noch klarer tritt das Wesen der vernunftbezogenen Theologie in der Aussage Lessings zutage: „Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten, sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist.“ Die Wahrheit ist also eine sich aus der Vernunft ergebende eigenständige Größe und bedarf nicht etwa einer dahinterstehenden göttlichen Autorität.

Aber nicht jeder, der aus dem Becher der Aufklärung trank, hat noch den Geschmack des Christlichen Glaubens im Mund. Es gibt auch eine andere Entwicklung, die sich ebenfalls aus der Aufklärung ergeben hat. Es ist der Atheismus und der Kommunismus. Nicht zufällig haben sich im intellektuellen Milieu der Aufklärung die Ansichten bedeutender atheistischer Persönlichkeiten wie Voltaire, Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche entwickelt. Das Futter für diese Weltanschauungen wird aus dem gleichen Trog wie die liberale Theologie bezogen. Ohne eine grundlegende Veränderung in den Denkvoraussetzungen der Aufklärung vorzunehmen, kann ich aus der reinen Vernunft auch eine Gültigkeit des Atheismus ableiten. Und die praktische Vernunft führt auf dem gleichen Weg, wie das soziale Evangelium zum Kommunismus von Engels und Marx, die beide auch deutsche Theologie studiert haben. Der christliche Glaube ist nur der Hut, den ich auf den Ständer der Philosophie gesetzt habe. Andere setzten auf den gleichen Ständer den Atheismus oder den Kommunismus. Um es noch schärfer zu sagen: Wollte ich meinen Atheismus begründen, könnte ich mich am besten aus dem Werkzeugkasten der Bibelkritik in der liberalen Theologie bedienen. Wenn ich einen Menschen davon abbringen will, weiter an die Wahrheit der Bibel zu glauben, dann benütze ich am besten die Argumente der modernen Bibelkritik. Um dann doch wieder den christlichen Glauben ins Boot zu holen, brauche ich einen intellektuellen Quantensprung oder den Nebel des Relativismus. Mit anderen Worten: Um auf dem Fundament der Denkvoraussetzungen der Aufklärung, das ebenso gut das Haus des Atheismus trägt, noch eine christliche Weltanschauung aufzubauen, kann ich das nur tun, indem ich einen anderen Begriff für das Christliche einführe. Die Quelle beider Strömungen, die der liberalen Theologie und die des Atheismus sind jedenfalls die gleichen.

Natürlich kennt auch die Bibel eine Vernunft. Die Vernunft ist per se nichts Schlechtes. Ich würde zustimmen, dass die Vernunft durchaus als Geschenk und als Teil der Ebenbildlichkeit Gottes angesehen werden kann. Auch zahlreiche christliche Denker wie Augustin, Aquin, Luther, Calvin oder Melanchthon schätzten die Vernunft als Gabe Gottes. Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass der Mensch und damit auch die menschliche Vernunft im Sündenfall degeneriert sind. Sie kann gebraucht oder missbraucht werden. Sie ist auf geistigem Gebiet genauso anfällig für die Verführung durch Satan wie das die Gefühle auf körperlichem Gebiet sind. Wir sprechen in diesem Fall von Verblendung. (Joh.8,44ff).  Paulus warnt in seinen Briefen immer wieder vor Irrlehren, indem er seine Adressaten auf das Festhalten an dem apostolischen Zeugnis einschwört. (Gal.1,8) Ein von Gottes Offenbarung losgelöster, eigenständiger Vernunftglauben steht offensichtlich in der Gefahr, auf intellektuelle Abwege zu geraten.  Die Vernunft braucht also die Rückbindung an Gottes Offenbarung, um nicht im Kampf gegen böse Mächte zu unterliegen. Sie muss wissen, dass ihr Platz nicht über Gottes Wort ist, sondern unter Gottes Wort. Gerhard Maier betont, dass die Vernunft in der Bibel ausschließlich ein rezipierendes (= empfangendes) und reproduzierendes Organ und nicht eine eigenständige Offenbarungsquelle sei. Als rezipierendes Organ vernimmt sie die Werke der Schöpfung und gewinnt so eine Gottesahnung. Sie vermutet, es könne einen Gott geben, der am Ende Rechenschaft fordern könnte. Eine Gewissheit erfahre sie dadurch allerdings nicht. „Gewissheit, Unterscheidungsvermögen, geistliche Einsicht: all dies empfängt sie erst in der Verbindung mit Gott. Hier gilt der Kernsatz der Bibel: Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis (Spr1,7;9,10) Die Hierarchie ist entscheidend. Eine Vernunft, die sich als Maßstab über die Offenbarung erhebt, kann nur in die Irre führen. Eine Vernunft, die sich an Gottes Wort orientiert, ist ein Segen. Wahre Erkenntnis ist das Produkt einer Vernunft, die sich dem Wort Gottes unterordnet. So könnte man das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung in der Bibel charakterisieren. Insofern läuft die historisch- kritische Theologie Gefahr, die wahre Erkenntnis zu verfehlen, wenn sie die Vernunft der Offenbarung voranstellt.

Durch die Aufklärungsphilosophie ist noch eine weitere Kategorie in den Vordergrund gerückt, die aber mit dem bisher Gesagten eng verbunden ist und die sich zwangläufig auch in der liberalen Theologie breit gemacht hat. Es ist die Kategorie des autonomen Menschen. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstands, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Schon das Wort Aufklärung impliziert, dass sie sich als Bewegung verstanden hat, die die Wahrheit ans Licht bringt. Sie stellt den Anspruch, den einzelnen Menschen mit Hilfe der Vernunft aus seiner Unterdrückung durch überkommene Autoritäten wie Kirche und Staat zu befreien. Der Mensch bekommt die Chance und das Recht auf Autonomie. (Unabhängigkeit) Wir verdanken der Aufklärung große Errungenschaften wie beispielsweise unabhängige Wissenschaften, die Idee des Rechtsstaats oder den Einsatz für Gewissens- und Religionsfreiheit. Bei allem Positiven, was uns die durch die Aufklärung gewonnene Autonomie gebracht hat, sollten wir uns allerdings besinnen, was die Bibel zur Autonomie des Menschen sagt. Die Bibel kennt den autonomen Menschen nur als den verlorenen Menschen. Das Gleichnis von den verlorenen Söhnen, wie Gerhard Maier sie bezeichnet, gibt diese Sichtweise in kompakter Form wieder. Dazu Gerhard Maier: „Diese Autonomie leidet aber unter 2 Begrenzungen. Sie kann 1.) die Herrschaft und die Liebe des Vaters nicht beseitigen und sie kann2.) nicht verhüten, dass andere Gestalten als der Vater über den in der „Fremde“ lebenden Sohn ihre Herrschaft ausüben. Sein Leben wird defizitär, gerät in Abhängigkeit, und der ehemals freie Sohn wird ein Knecht (Röm. 7:14). Das Gleichnis spiegelt in einzigartiger Weise das Grundproblem des Menschen gegenüber Gott wider. Der Mensch mit der Fähigkeit zur freien Entscheidung ausgestattet, will unabhängig sein, will selbst entscheiden können, will autonom sein. Er steht immer in der Gefahr, sich loszulösen von Autoritäten. Seine Autonomie bleibt aber eine Utopie und führt in die Sklaverei, ja sogar bis zum Rand des Untergangs. Die Französische Revolution, die sich auf die Verwirklichung aufklärerischer Ideen berief, ist ein Beispiel für eine derartige Entwicklung. Sie führte in eine Schreckensherrschaft. Das Streben nach Autonomie gehört zu den Grundeigenschaften des Menschen und ist der Ausgangspunkt der Verführung durch die Schlange im Paradies. Setzt man ein dem Menschen innewohnendes Streben nach Autonomie voraus, dann findet sich darin möglicherweise eine Erklärung für die seltsame Liebe der historischen Kritik zur Aufklärungsphilosophie. Der Mensch sieht sich in der Lage, unabhängig zu prüfen, was Wahrheit ist und was nicht. Er glaubt mit Hilfe der wissenschaftlichen Vernunft, unterscheiden zu können zwischen zeitbedingten Aussagen und ewiggültigen Wahrheiten. Aufklärung bedeutet nach Immanuel Kant den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Der Mensch ist dank seiner Vernunft weder auf die Offenbarung noch auf die Kirche angewiesen. Es komme nur auf seine inneren Überzeugungen an. Damit einher geht die Ansicht in der Aufklärung, dass der Mensch grundsätzlich gut ist und die Fähigkeit besitzt, sein Leben nach seinem Willen und seiner Erkenntnis zu ordnen und zu gestalten. So hat er die Unmündigkeit überwunden und ist nun mündig geworden. Diese Autonomie muss jedoch nicht zwangsläufig in Gottlosigkeit oder Glaubenslosigkeit münden. Sie kann durchaus auch mit einer Sehnsucht nach Religiosität verbunden sein. Gerhard Maier dazu: „Es ist nun die Eigenart der historischen Kritik, dass sie aus dieser Quelle des religiösen, aber autonom sein wollenden Menschseins aufsteigt und gleichzeitig am Christentum als der wahren Religion festhalten will. In dieser Kombination liegt ihr Charakter. Sie kann sich deshalb gleichzeitig als Erbin Luthers und des Erasmus fühlen, als Erbin der Reformation und des Humanismus, der richtig verstandenen Bibel und des naturalistischen Deismus, der Antike und der Apostel, der Vernunft und der Offenbarung.  

Folgerichtig hat sich in der Aufklärung eine Autoritätskritik und damit auch eine Dogmenkritik ausgebreitet. Die historisch-kritische Theologie hat ihre Stoßkraft nicht zuletzt dem Zeitgeist entsprechend aus ihrer Abstoßung von kirchlichen Dogmen erhalten. Allerdings muss sie sich hier fragen lassen, ob sie nicht genau das getan hat, wovor uns die Geschichte von den verlorenen Söhnen warnen will. Der Mensch setzt sich mit dem Gefühl der Autonomie über das göttliche Wort. Wenn man die Ergebnisse der historischen Kritik mit ihren zahlreichen Deutungen und korrekturbedürftigen Irrwegen anschaut, dann bekommt man tatsächlich den Eindruck, wie wenn sich hier einer der Grundprobleme des Menschen, nämlich das Streben nach Autonomie, und die daraus resultierende erneute Abhängigkeit unter geänderten Vorzeichen wiederspiegele. Man kann der HKT nur wünschen, umzukehren und zum Vater zurückzukehren.

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